Über Entwurzelung, Zugehörigkeit und Identität

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Mit "Beeren pflücken" ist der kanadischen Autorin Amanda Peters ein packendes Debüt gelungen, das völlig berechtigt schon einige Preise gewonnen hat. Es geht um Familie, Identität, altes Unrecht, Wut, aber auch die Möglichkeit für Versöhnung und Verzeihen. Und auch um die Frage des "alternativen Lebens". Wer wären wir, wenn wir in einer ganz anderen Familie aufgewachsen wären? Was hätte das mit uns, aus uns, gemacht?

In den 1960er Jahren arbeitet eine Mi'kmaq-Familie, nordamerikanische Ureinwohner, im Sommer auf Beerenplantagen. Die Eltern und die größeren Kinder pflücken Beeren, die kleineren Kinder laufen so mit und sind tagsüber weitgehend sich selbst überlassen. Es ist eine Zeit, in der man es sich noch nicht leisten konnte, sich die ganze Zeit aktiv um kleine Kinder zu kümmern, ganz besonders, wenn man einer benachteiligten Sozialgruppe angehört hat, so wie die unterdrückten und diskriminierten Mi'kmaq. Die Arbeit auf den Beerenfeldern ist eine harte, doch gibt es auch viel Freude und gemeinsames Zusammensein an den Abenden und in der Freizeit. Es ist eine fröhliche Familie, zu der die 4-jährige Ruthie gehört, sie ist die jüngste von sechs Geschwistern, abends kuschelt sie sich zum Schlafen an ihre Mama, und insbesondere der nur etwas ältere Bruder Joe steht ihr nahe. Er ist es auch, der sie zum letzten Mal sieht, bevor sie spurlos von den Beerenfeldern verschwindet. Alle verzweifelten Suchaktionen der Familie bleiben erfolglos, die Polizei ist nicht sehr gewillt, zu helfen, und es werden Jahrzehnte vergehen, bis die Familie Ruthie wiedersieht.

Das Buch ist abwechselnd aus zwei Perspektiven geschrieben: einerseits die von Ruthie, nun von ihren neuen Eltern Norma genannt, die materiell wohlhabend als abgeschirmtes Einzelkind bei ihren weißen Eltern aufwächst und schon früh beginnt, sich Fragen zu stellen... zu ihrer dunkleren Hautfarbe und auch sonst dem ganz anderen Aussehen im Vergleich zu ihrer irischstämmigen Familie, aber auch zu alten Träumen von einer anderen Mutter und Geschwistern, die von ihren Eltern als banale Kinderfantasien abgetan werden. Zusätzlich sind die Eltern, insbesondere die Mutter, die viele Fehlgeburten hatte, sehr ängstlich, und Norma wird überbehütet und von vielem abgeschirmt, auf eine Art, die sie als sehr erstickend erlebt.

Andererseits lesen wir über das Leben von Joe, Ruthies Bruder, der ihr Verschwinden nie verwunden hat, ein im Leben Herumirrender und Suchender bleibt, von einem Ort zum anderen flüchtet, engen Bindungen aus dem Weg geht und für nichts Verantwortung übernehmen will. Erst spät im Leben, als Joe Krebs im Endstadium hat und ihm nur noch kurz bleibt, findet er nicht nur wieder zu seiner Familie zurück, sondern es kommt auch zu einem Wiedersehen mit Ruthie (das ist kein Spoiler, da es schon ganz am Anfang des Buches zumindest angedeutet wird).

Stilistisch ist das Buch lebendig und interessant geschrieben, es fällt leicht, mit den Figuren mitzufühlen und sich mit ihnen zu identifizieren. Spannend sind auch die unterschiedlichen Perspektiven der zwei Geschwister. Immer wieder zeigt sich in Szenen die noch lange bestehende Diskriminierung der Mi'kmaq, was sehr nachdenklich macht. Die Autorin hat selbst zum Teil Mi'kmaq-Abstammung und kann hier sicher einiges aus der Erfahrung ihrer eigenen Familie mit diesem Thema beisteuern, das macht das Buch noch einmal auf einer tieferen Ebene lebendig und authentisch. Auch die intergenerationalen Traumatisierungen, die die Mi'kmaq und andere Native Americans seit langer Zeit mit sich herumschleppen, das Verleugnen der eigenen Kultur und Sprache und der problematische Umgang mit Alkohol und Gewalt sind Themen. Es ist also ein Buch, das nicht nur gut unterhält, sondern auch über einige vielen Lesenden sicher weniger bekannte Themen aufklärt, und das insgesamt sehr berührend ist - Leseempfehlung!