Herrliche Sommerempfehlung!

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fraedherike Avatar

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"Man kann eine Geschichte immer auf mehrere Weisen erzählen.“ (S. 18)

Sommer 1989. Seit der Geburt ihrer Tochter Hannah vor einigen Wochen fühlt Silvia sich seltsam verloren, einsam in ihrer neuen Zweisamkeit – war sie eben auch nur das. Der Vater des Kindes möchte nichts von ihr und einem Kind wissen, war sie, die furchtlose, junge Frau aus der Kreuzberger Hausbesetzer-WG, eh nur ein kleines Abenteuer in seinem elitären Lebensplan. Aber auch die Gemeinschaft ihrer Mitbewohner:innen erdrückt sie. Nein, sie muss raus, weg aus Berlin. Kurzerhand klaut sie den alten Polo ihres Mitbewohners und verlässt mit der kleinen Hannah im Wäschekorb neben ihr die Zone gen Süddeutschland.

"Silvia stand stumm in der Tür und traute sich kaum zu atmen. Jetzt die Mutter umarmen, dachte sie. Sich der Mutter in den Arm werfen und die Nase an ihren Hals drücken, festgehalten werden und alles rausweinen. Das Haar gestreichelt bekommen. Ein Muttersummen und Mutterwiegen, ein Pusten aufs Aua. Das wär's." (S. 36)

Je näher sie ihrer Heimatstadt und damit den Geistern der Vergangenheit kommt, desto beklemmender wird das Gefühl in ihrer Brust. Viele Jahre ist es her, dass sie das letzte Mal hier war. Wie würde ihre Mutter Evelyn ihren plötzlichen Besuch aufnehmen, das verlorene Kind? Sie hatte es nicht mehr aushalten, damals, die theoretische Möglichkeit von Freiheit hatte nicht mehr genügt. Dazu war zu viel passiert, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden konnte. Ihre neue Rolle als Mutter hatte etwas verändert. Jedes Mal, wenn sie Hannah auf dem Arm hielt, pochte eine dumpfe Leere in ihrem Herzen: Sehnsucht, Einsamkeit. Und die Hoffnung, ihrer eigenen Mutter wieder näher zu kommen.

"Manchmal denke ich, es ist ja vielleicht auch ein Segen. Alles zu vergessen. Nicht mehr reden zu müssen." (S. 265)

In zwei, sich allmählich annähernden Zeitebenen erzählt Alena Schröder in ihrem neuen Roman "Bei euch ist es immer so unheimlich still" die Geschichte von Silvia und ihrer Mutter Evelyn. Nach all den Jahren treffen sie im Sommer 1989 unverhofft wieder aufeinander, war der Kontakt zwischen Mutter und Tochter nach Silvias Flucht aus dem elterlichen Nest, das keines war, nur ein seidener Faden, der immer wieder zu reißen drohte. Seit dem Tod ihres Mannes Karl vor einigen Jahren war Evelyn alleine, hatte sein Verlust ihr den letzten Meter Boden unter den Füßen geraubt, nachdem sie bereits mit ihrem Ruhestand jene Zielstrebigkeit verloren hatte, die ihr so zu eigen war.
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Beginnend im Jahr Evelyns Hochzeit mit Karl 1940 entwirft Schröder aus verschiedenen Perspektiven, etwa der ihrer Schwägerin Betti oder eben jenem Gatten, ein eindrückliches, wie in Sepiafarben gehülltes Bild der Nachkriegszeit, beschreibt die Wege des Schicksals, die Evelyn ein Teil der Familie Borowski haben werden lassen; die Narben, die der Krieg bei Karl hinterließen und seine Beziehung zu seiner Schwester Betti nachhaltig veränderten; die Schwierigkeiten, mit denen Evelyn als Frau Doktor in einer patriarchalischen Welt umzugehen hat. Am meisten Schwierigkeiten bereitete ihr jedoch die Rolle als Mutter: Nachdem es einige Jahre dauerte, bis sie endlich schwanger war, fühlte sie sich als Mutter so hilflos wie noch nie in ihrem Leben – und entsprechend
distanziert war die Beziehung zu ihrer Tochter. Betti hingegen, ihre Tante und das
Enfant terrible der Familie, sollte für Silvia eine Vertrauensperson in den dunkelsten Stunden ihres jungen Lebens werden. Sie waren einander ähnlicher als Mutter und Tochter, schlugen über die Stränge, suchten die Grenzen, die Freiheit, waren ihrer Zeit weit voraus, doch das Schicksal hatte anderes im Sinn.
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Mitreißend und wärmend offenbart Schröder nach und nach Versatzstücke aus vergangenen Zeiten, aus Silvias Jugend und Kindheit, aus Evelyns Leben als Neigschmeckte, Mutter und Ehefrau, aus zwei unterschiedlichen Lebenswelten. Ihre Entwicklung, wie sie sich miteinander verändern, an der neuerlichen Verbundenheit wachsen, hat mich in Atem gehalten, konnte ich mich von Beginn an in ihrer beider Gedanken und Beweggründe einfühlen. Besonders Betti als handlungsweisende Nebenfigur ist mir auch sehr ans Herz gewachsen, sticht sie doch in der Prinzipientreue der elitären Borowskis heraus. Eine herrlich atmosphärische Geschichte und große Empfehlung!