Mütter und Töchter und andere Begebenheiten – eine Familiengeschichte

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marionhh Avatar

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Berlin, 1989: Silvia Borowski lebt in einer WG und hält sich mehr schlecht als recht über Wasser. Mit ihrer neu geborenen Tochter Hannah wird das nicht einfacher. Überstürzt klaut sie den Polo ihres Mitbewohners Dirk und fährt in ihre alte Heimat Ildingen in der schwäbischen Provinz, um zu ihrer Mutter zu fahren, obwohl sie mit ihr schon viele Jahre keinen Kontakt mehr hat. Wie wird Evelyn Borowski sie aufnehmen? Mit ihrer Fahrt ins Ungewisse rührt Silvia viele alte Wunden und Geschichten wieder auf und es kommt so manches Familiengeheimnis ans Licht.

Wunderbarer Familienroman über Mütter und Töchter, den Zweifel, alles richtig zu machen, über Umbrüche und Aufbrüche, aber auch über das Ankommen und Annähern und das Ende der Stille. Fast schon ein wenig nebenbei erfährt der geneigte Leser auch einiges über Dorfgemeinschaften, über unerwartete Freundschaften und verhaltenes Aufbegehren gegen gesellschaftliche Normen. Das fiktive Dorf Ildingen spiegelt dabei das ganze Spektrum eines engen Mikrokosmos, in dem Tradition und alte Werte großgeschrieben werden. Ein Dorf, wie es Tausende gibt, in dem jeder jeden kennt, wo jeder die Geheimnisse des anderen zu kennen glaubt und wo es doch ständig unter der Oberfläche brodelt. Der Gegensatz zum überschäumenden Berlin zur Wendezeit, wo sich gerade alles verändert, ist deutlich zu spüren.

Auf zwei Zeitebenen erzählt die Autorin sehr gekonnt und mit viel Sympathie für ihre Figuren die Geschichte der beiden Frauen Evelyn und ihrer Tochter Silvia. Ihrer beider Suche nach einem vertrauten Miteinander, die Verzweiflung, keinen Draht zueinander zu haben und die Hoffnung, dass es doch einmal so sein wird, dies zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Man erfährt viel über Evelyns und Silvias Charakter, der die Motive erklärt und ihre Reaktionen nachvollziehbar macht. Zumindest für den Leser, die beiden selbst bleiben lange stumm und so sind Missverständnisse vorprogrammiert. Sehr geschickt verknüpft die Autorin zudem weitere Perspektiven, etwa der Bettis oder Georgs, mit der Haupthandlung. So werden Geschehnisse verdeutlicht, aus einer anderen Perspektive beleuchtet und noch mehr Hintergründe ans Licht gebracht.

Alle Charaktere werden gut und vielschichtig dargestellt und keiner ist oberflächlich. Die Tiefe der Figuren und ihrer Interaktion machen die Spannung der Geschichte aus. Silvia und Evelyn sind dabei im Fokus, sowohl im Jahr 1957 als auch 1989. Während in der Gegenwart die Zeitspanne der Geschichte nur ein paar Monate dauert, in der Silvia bei ihrer Mutter ist, spannt sich die Rückblende über mehrere Jahre und bringt chronologisch die wahren Ereignisse ans Licht.

Es ist auch eine Geschichte des Weglaufens und wieder Zurückkommens, der Abnabelung und der Annäherung. Beide Frauen sind voller Selbstzweifel, der anderen nicht zu genügen, und das Nicht-miteinander-sprechen-können macht ein großes Stück der Tragik dieser Geschichte aus. Evelyn mit ihrem analytischen Verstand, ihrer Selbstdisziplin und ihrem Perfektionismus steht dabei zunächst in krassem Gegensatz zu ihrer emotionalen Tochter. Das Bindeglied zwischen beiden ist Hannah, sie bringt die beiden aneinander näher und bewirkt, dass sie aufeinander zugehen und sich ihren Ängsten stellen.

Auch andere Figuren haben stark herausgearbeitete Persönlichkeiten, so fand ich etwa Silvias Vater Karl oder ihren Kumpel Rüdiger wunderbar und auch überraschenderweise Monika. Fast alle Protagonisten machen auf die eine oder andere Art eine Entkoppelung durch, man trennt sich von alten Zöpfen und emanzipiert sich, sodass neue Bündnisse entstehen. Menschen wachsen zusammen, formieren sich neu und sind schließlich bereit zu neuen Ufern aufzubrechen. Ein schönes Pendant zur deutschen Wende: Das, was im Großen mit einem ganzen Volk passiert, geschieht ebenso in der kleinen Parallelwelt.

Fazit: Ein wunderbares, emotionales und zu Herzen gehendes Buch, das sich gut lesen lässt und viel Empathie für die Figuren weckt. Das gebundene Buch kommt mit schön gestaltetem Schutzumschlag und Lesezeichenband daher. Im Anschluss an die Geschichte findet sich eine Leseprobe des Vorgängerbandes, der interessanterweise zeitlich NACH diesem spielt. Meines Erachtens lassen sich aber beide unabhängig voneinander lesen. Diese Geschichte hier macht jedenfalls Lust, mehr von der Autorin zu lesen, und ist vor allem für Fans von Frauen- und Familiengeschichten der leisen, aber intensiven Töne sehr gut geeignet.