Ekstase - Rausch oder Bewusstseinserweiterung?

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odile Avatar

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Das psychedelisch anmutende Cover erregte zunächst meine Aufmerksamkeit. Mit dem Klappentext und der Leseprobe hatte sie mich dann endgültig am Haken. Sie, das ist Racha Kirakosian, Professorin für Mediävistik an der Alberts-Ludwig-Universität in Freiburg. Ihr Buch. „Berauscht der Sinne beraubt“ bietet einen Überblick über die Geschichte der Ekstase von der Antike bis heute.

In der Einleitung, erläutert die Autorin ihren Hintergrund, die Annäherung ans Thema und die zugrunde liegende Methodik. Diese werden auch mittels der Einschübe, „Diskursiv“ und „Exkursiv“ im Text hervorgehoben.

Das Buch ist in fünf Kapitel eingeteilt, die sich jeweils mit einer Erscheinungsform der Ekstase befassen. Die Annäherung an das Phänomen erfolgt aus verschiedenen Richtungen.

Kapitel eins – Über den Wolken – Visionen und Flow

befasst sich mit der Assoziation dieser Begriffe mit Ekstase.
Die Autorin erläutert, dass in der Spätantike dem sinnentrückten Zustand ein besonderes Potenzial zur Gotteskommunikation attestiert wurde. In diesem Zusammenhang untersucht sie die visionäre Sicht einer Hildegard von Bingen ebenso, wie das Bekehrungserlebnis von Paulus, das Orakel von Delphi und modernes leistungsförderndes Flow-Coaching. Die Wirkung bewusstseinserweiternder Substanzen als Auslöser ekstatischer Zustände wie Ergotamin oder
Ayahuasca werden in diesem Kapitel ebenfalls beleuchtet.

Kapitel zwei – Der Moment des Aufpralls. Freude im Schmerz

widmet sich der Ekstase infolge von Schmerzen. Im religiös spirituellen Rahmen dient Christina von Hanes Ekstase infolge eines dreistufigen Leidenskonzeptes, das u.a. Selbstverstümmelung und strenge Askese beinhaltet als Beispiel. Auch Elsbeth von Oye, Heinrich von Suse und andere propagieren ein ähnliches Konzept. Die Verbindung von Schmerz und Ekstase beschränkt sich aber nicht auf den christlichen Rahmen, wie der Sufismus, der in der islamischen Tradition wurzelt, beweist. Nicht religiöse Vertreter der Leidensekstase werden mit den Beispielen de Sade, Sacher-Masoch und der modernen BDSM-Szene belegt.

Kapitel 3 – Hinab ins Erdreich. Frauen und Ekstase

Das ekstasesüchtige Weib von der Gefahr ausgeht, steht hier im Mittelpunkt. Frauen, die in Zusammenhang mit Ekstase gebracht wurden, befanden sich lange Zeit in Gefahr. Wie die Autorin einräumt berührt das Thema Hexerei die Geschichte der Ekstase zwar nur peripher. Trotzdem hängt beides zusammen. Dies wird durch einen Abriss der Geschichte der Hexenverfolgung ausgehend vom Deutschland der Frühen Neuzeit, über Salem 1692/93 bis hin zu heutigen Staaten wie Ghana oder Sambia, verdeutlicht.
Die zeitgenössische Bewertung religiöser Stigmata wie die der Anna Katharina Emmerick, einer ekstatischen Mystikerin, Meister Eckharts Sicht der Ekstase und eine kurze Geschichte der Hysterie komplettieren dieses Kapitel.

Kapitel 4 – Vom Aufsteigen. Der Tanz in die Lüfte.

Eine Unterscheidung wischen säkularer und religiöser Tanzekstase ist laut der Autorin nicht möglich. Sowohl im Sufismus wie beim marokkanischen Gnawa-Kult wird entrückte Ekstase durch rituellen Tanz erreicht. Von christlichen Gemeinschaften wird Ähnliches berichtet. So beschrieben 1827 Menschen, die zum Methodismus konvertierten, ihr Bekehrungserlebnis als religiöse Ekstase. Säkulare Beispiele von Tanz und Ekstase sind z. B. die apulische Tarantella oder Tanz-Events der Techno-Szene.

Kapitel 5 – Aufgehen im Ganzen. Einheitserfahrungen in der Masse

Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit Ekstase in der Masse, z. B. als gemeinsames euphorisches Erlebnis eines Sportereignisses. Ekstase und Gewalt in Gestalt des ekstatischen Soldaten, bspw. Kamikaze-Fliegern.
Ekstase als Massenphänomen von der Boston Tea Party 1773 bis hin zu Goebbels von der Masse umjubelten Aufruf zum totalen Krieg am 18.2.1943. Ekstase als wesentliches Merkmal des Massenwahns. Als Mittel zur Kontrolle oder als Werkzeug der Macht durch Manipulation.

Der Epilog über die Ambivalenz der Ekstase, die teilweise kommentierten Anmerkungen im Anhang (stolze 65 Seiten) und ein Personenregister runden das Sachbuch ab,

Racha Kirakosian hat ein beeindruckendes Werk zum Thema Ekstase geschrieben. Trotz der vielen Informationen und Beispiele kann ich jetzt ihre Aussage besser verstehen, dass das Phänomen schwer zu fassen ist. Für meinen Geschmack liegt der Fokus etwas zu stark auf der religiösen Ekstase, was die Erwähnung der christlichen Mystikerin Christina von Hane in vier von fünf Kapiteln belegt.Ich habe viel gelernt und meine Neugier nicht bereut, obwohl sich das Buch zu Beginn etwas spröde liest. Wer sich für die Geschichte der Ekstase interessiert, trifft mit diesem Sachbuch eine gute Wahl.