EIN STARKES, INTROSPEKTIVES COA ÜBER SELBSTSUCHE, SCHAM, KÖRPERLICHKEIT UND ZUGEHÖRIGKEIT

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✨ REZENSION zu „Beste Zeiten“ von Jenny Mustard, übersetzt von Lisa Kögeböhn und erschienen im Eichborn Verlag

📖 Inhalt (spoilerfrei): Im Mittelpunkt steht Sickan, die eigentlich Siv heißt, sich jedoch selbst einen neuen Namen gibt, um sich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Mit Anfang 20 ist sie für ihr Studium gerade nach Stockholm gezogen und versucht nun, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, fernab ihrer exzentrischen Eltern, die hochintelligente Wissenschaftler, aber sozial unbeholfen und auffällig sind. Sie selbst kämpft mit Scham, Einsamkeit und dem tiefen Wunsch, „normal“ zu sein und dazuzugehören und muss erkennen, wie schwer es ist, sich selbst zu verstehen, während man versucht, in einer Welt voller Erwartungen seinen Platz zu finden.

🖋️ Erzählstruktur & Stil : Jenny Mustard wählt eine fragmentarische, introspektive Erzählweise. Mit beinahe jedem Absatz wechselt die Perspektive zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Erinnerungsfetzen. Wir sind mal in Stockholm, mal in Sickans Kindheit, mal während der Weihnachtsferien bei ihren Eltern. Diese ständigen Zeit- und Ortswechsel fordern die Lesenden, ohne sie zu überfordern. Der Stil ist nüchtern, präzise und poetisch. Viele Sätze wirken beiläufig und tragen doch eine tiefe emotionale Wucht. Besonders auffällig ist die sprachliche Ehrlichkeit: Körperliche und intime Erfahrungen werden nicht ausgespart, sondern selbstverständlich in den Text integriert. Wenn Sickan über ihre Menstruation spricht oder den Kauf von Tampons reflektiert, wird deutlich, wie subtil gesellschaftliche Schammechanismen wirken und wie absurd sie sind. Jenny Mustard benennt Scham, Sexualisierung und Körperlichkeit offen und enttabuisiert damit Themen, die in vielen Romanen noch ausgespart werden. Die Sprache ist dabei nie plakativ, sondern ruhig, beobachtend, reflektiert und kraftvoll.

👥 Figuren: Sickan ist eine komplexe, oft widersprüchliche Figur: sensibel, introspektiv, manchmal kühl, abgebrüht, dann wieder verletzlich und unsicher. Diese Ambivalenz macht sie authentisch und menschlich. Ihre Eltern, Freunde und Partner sind weniger im Mittelpunkt, dienen aber als Spiegel ihrer Entwicklung. Besonders ihre Beziehung zu Abbe ist ambivalent: von Zuneigung geprägt, aber auch von Distanz, Unsicherheit und Schmerz.

🌙 Symbolik: Einerseits spiegelt die fragmentarische Struktur Sickans seelische Unruhe und die Suche nach Orientierung wider: Wie sie selbst sich noch nicht zurechtfindet, muss man sich als Leserin ebenfalls immer wieder neu verorten. Die Benennung ihrer Menstruation steht für Körperlichkeit, Weiblichkeit und Normalität, wird ungeschönt integriert ein Akt sprachlicher Ehrlichkeit. Die Tampon-Kaufszene macht internalisierte Scham sichtbar, die Angst, über den Körper bewertet zu werden, und das Bewusstsein, dass selbst Intimes gesellschaftlich aufgeladen ist. Das Einsetzen der Blutung tritt genau zeitgleich zu ihrem emotionalen Schmerz ein, weil ihr Abbe kein „god jul!“ zu Heilig Abend wünscht. Die fast erfrorene Zehen symbolisieren die fragile Beziehung zu Abbe: sie sind „fast tot“, kehren aber schmerzhaft, doch lebendig zurück, wie auch er in ihrem Leben präsent bleibt.

🕳️ Thematische Tiefe: Jenny Mustard thematisiert eindrücklich, wie junge Frauen in einer leistungsorientierten, bewertenden Gesellschaft aufwachsen. Sie beschreibt den Druck, attraktiv und begehrenswert zu sein, die frühe Sexualisierung, die Scham über den eigenen Körper, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Normalität, die Schwierigkeit, echte Nähe zuzulassen.

💡 Fazit: „Beste Zeiten“ ist ein stilles, aber starkes feministisches Werk, das den Blick nach innen richtet, auf die Prägungen, Erwartungen und Unsicherheiten, die uns in frühen Erwachsenenjahren begleiten. Es ist ein sprachlich starkes, introspektives Coming-of-Age über Selbstsuche, Scham, Körperlichkeit und Zugehörigkeit. Mir gefiel besonders die atmosphärische Dichte des Stockholmer Settings, die ehrliche Sprache, die stille Symbolik und die thematische Relevanz. Dennoch hat das Buch emotional nicht allzu viel mit mir gemacht. Es blieb stellenweise distanziert, vieles wurde nur angedeutet, manche Erinnerungen blieben offen (was ist mit ihrer Narbe am Finger?!). Spannend ist der autofiktionale Eindruck: Jenny Mustard hat selbst in Stockholm gelebt und studiert, und einige Details (wie das Rasieren der Haare) scheinen aus ihrem eigenen Leben inspiriert. Doch der Roman ist klar als Fiktion angelegt und nutzt persönliche Erfahrungen eher atmosphärisch als biografisch, ganz ähnlich zu den kreativen Dialogen, die Sickan im Buch auf Grundlage wahrer Gespräche schreibt, aber abändert. Insgesamt ein unglaublich energetisches und mutiges Buch, das wichtige Themen flüsternd auf den Punkt bringt und dabei keinerlei Authentizität einbüßt.

4|5 ⭐️