Vermeintlich oberflächliches Thema toll umgesetzt

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seitendreherin Avatar

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Hast du schon einmal davon geträumt, jemand anderes zu sein? Genau das wagt Delia, als Influencerin Anouk eine Mitbewohnerin sucht. Für die unscheinbare junge Frau ist es die perfekte Gelegenheit für einen Neuanfang. Unter dem Namen „Lilly“ zieht sie bei Anouk ein und will endlich das Leben führen, von dem sie immer geträumt hat: das einer selbstbewussten Bühnenautorin. Anouk wiederum glaubt, Lilly sei die Tochter eines bekannten Regisseurs – und wittert darin ihre eigene Chance. Zwischen den beiden entsteht eine Beziehung, die beide zwingt, ihre Vorstellungen von Erfolg und Selbstverwirklichung neu zu hinterfragen – und die vielleicht sogar in eine echte Freundschaft münden könnte.

Als ich den Klappentext das erste Mal gelesen habe, war ich ehrlich gesagt skeptisch. Das Thema Influencerin hat mich nie wirklich gereizt. Social Media nimmt ohnehin schon genug Raum in meinem Alltag ein, und darüber möchte ich dann privat eher kein Buch lesen. Weil ich aber die YouTube-Videos von Joana June gerne schaue, wollte ich ihrem Debüt dennoch eine Chance geben. Und "Bestie" hat mich überrascht: Der Roman beweist, dass sich ein vermeintlich oberflächliches Thema mit viel Tiefe und literarischem Anspruch erzählen lässt.

Besonders stark fand ich, wie komplex June die Dynamik zwischen Anouk und Delia ausarbeitet. Beide gehen mit klaren, eher eigennützigen Erwartungen in diese Wohngemeinschaft: jede will von der anderen profitieren. Zentral ist dabei das Motiv des Neids. Anouk beneidet Delias Schreibkompetenz, fühlt sich von ihr bedroht, während Delia von Anouk nahezu besessen ist – von ihrer Ausstrahlung, ihrer Selbstsicherheit, ihrer öffentlichen Präsenz. Faszinierend ist auch, wie sehr Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinanderklaffen. Während Delia Anouk für ein Idealbild hält, bekommen wir als Lesende schnell Einblick in die Risse hinter der Fassade: Anouk zweifelt, steht unter enormem Druck und lebt in ständiger Angst, ein Fehltritt könnte ihre Karriere zerstören.

Auch die Rolle von Social Media wird facettenreich beleuchtet. Delia nutzt es, um eine neue Identität zu erschaffen und auszuleben. Gleichzeitig zeigt June eindrucksvoll, wie gnadenlos die Plattformen sein können. Ein kleiner Fehltritt genügt, und Anouk ist einem massiven Shitstorm ausgesetzt. Besonders deutlich wird dabei, dass Frauen für die vermeintlich kleinsten Fehler oft viel härter verurteilt werden als Männer.

Spannend bleibt bis zuletzt die Frage nach der Beziehung zwischen den beiden Figuren. Sind Delia und Anouk am Ende Freundinnen? Joana June lässt diese Deutung offen und macht klar, dass Solidarität unter Frauen viele Formen annehmen kann – auch außerhalb traditioneller Freundschaftsbilder.

Alles in allem ist "Bestie" ein beeindruckendes Debüt, das nicht nur durch seine Themen, sondern auch durch Joana Junes feinen Schreibstil überzeugt. Wer also wie ich zunächst wegen der Influencer-/Social-Media-Thematik gezögert hat: Dies ist definitiv eine Leseempfehlung.