Wie weit kann man sich verändern, ohne sich zu verlieren?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
bluenotes Avatar

Von

Delia zieht in eine neue Stadt und entscheidet sich, ab jetzt Lilly genannt zu werden. Sie will einen klaren Schnitt, eine neue Version ihrer selbst erschaffen. Was zunächst nach Selbstermächtigung klingt, wirkt bald wie ein Zwang: jede Geste, jedes Wort wird überprüft, ob es zu dieser erfundenen Identität passt.

Anouk, ihre neue Mitbewohnerin, ist das Gegenteil. Sie ist eine erfolgreiche Influencerin, hat Kontrolle über jede Situation und wirkt nach außen kühl, unnahbar, berechnend. Doch hinter dieser Fassade liegen Brüche, die sie nicht zeigen will, weder ihrer Familie noch ihrem Freundeskreis.

Zwischen Lilly und Anouk entwickelt sich eine Freundschaft, die mehr ist als Sympathie oder geteilte Zeit. Sie ist ein stilles Kräftemessen, ein Wechselspiel aus Nähe und Distanz. ”Bestie” untersucht, wie viel man von sich preisgeben muss, um wirkliche Verbindung entstehen zu lassen. Und wie weit man bereit ist, sich selbst zu verändern, um dazuzugehören, ohne den eigenen Kern zu verlieren.

Joana June zeigt diese Dynamik ohne Übertreibung, dafür mit genauer Beobachtung. Die Figuren sind widersprüchlich, gleichzeitig greifbar und fern. Ihre Gespräche und Gesten tragen oft mehr Bedeutung, als sie oberflächlich vermuten lassen. Mich hat das an Freundschaften erinnert, in denen Anziehung und Misstrauen, Bewunderung und Abwehr nebeneinander existieren.

Dieses Buch inspiriert. Es setzt Gedanken in Bewegung, öffnet Türen zu neuen Ideen. Nach der letzten Seite wollte ich endlich mal wieder ins Theater gehen. Der Text hat einfach einen Impuls gesetzt. Lesen ist hier kein passiver Konsum, sondern innere Arbeit: Perspektiven verschieben sich, alte Haltungen geraten ins Wanken.

Der Stil ist fließend, bildreich, stellenweise bewusst theatralisch. Symbolhafte Elemente verleihen der Geschichte eine traumartige Schicht.

Für mich gehört ”Bestie” bisher zu den besten Büchern des Jahres. Ein vielschichtiger Roman über Freundschaft, Macht, Selbstinszenierung und die unsichtbaren Verhandlungen, die zwischen Menschen stattfinden.