Bewegende Fakten

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elke seifried Avatar

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Die Autorin gliedert ihre Schilderungen in sechs Teile. Los geht es mit einem vorangestellten fesselnden Prolog, in dem man Zeuge davon wird, wie Freys beide Jungen von einem Gestapo Auto abgeholt werden. In einem kürzeren ersten Teil, erfährt man einiges zur Geschichte des Waisenhauses, in das sie gebracht werden, und in einem zweiten dann von dem Anwesen in Brazza bei Udine, in dem Frey mit den zwei Jungen gelebt hat. Im dritten Abschnitt macht die Autorin zuerst noch einmal einen zeitlichen Sprung zurück und man erfährt, wie sich Freys Vater Ulrich von Hassell, der deutsche Diplomat in Rom, von Anfang an ein heimlicher Nazigegner, dort beim Empfang der Nazigrößen bei Mussolini geschlagen hat und schließlich aufgrund seiner Einstellung entlassen wurde. Richtig fesselnd schildert sie hier auch von seinen Bemühungen Generäle für den Widerstand zu gewinnen, von geplanten Attentaten und deren Scheitern und auch von den vergeblichen Versuchen Friedensbedingungen mit den westlichen Alliierten auszukundschaften. Auch Freys Leben in dieser Zeit, Heirat, Kinder und vor allem auch ihr doppeltes Spiel, denn sie teilt die Einstellung des Vaters, versucht sich aber in Brazza mit den Deutschen gut zu stellen, mischt sich unter die Darstellung. Relativ ausführlich widmet sich die Autorin in diesem Teil auch den politischen Zuständen in Italien, dem Ringen um die Einflussgebiete samt Aktivitäten der italienischen Partisanen. Viel Hintergrundwissen liefert sie zudem auch über Stauffenbergs Hitlerattentat. Das fünfte und für mich bewegendste Kapitel, das mit der Folter und Hinrichtung von Freys Vater beginnt, der der Widerstandsgruppe um Stauffenberg angehörte, berichtet von ihrer Odyssee, die sie durchlebt, nachdem ihr ihre Kinder entführt und sie in Sippenhaft genommen wurden. Wohl im Gegensatz zu anderen Gefangenen einen privilegierten Stand innegehabt, durchlebt sie die Hölle in zahlreichen Lagern, KZs und auch bei den Transporten dazwischen. Warum protegiert Himmler die Gruppe von Sippenhäftlingen, wie lange wird er das tun, wohin wird es morgen gehen, wie lange werden sie noch inhaftiert bleiben, wird sie ihre Kinder je wieder zu Gesicht bekommen? Fragen, die genauso quälen, wie das Mit-Ansehen-Müssen von sinnlosen, brutalen Morden, menschenverachtenden Behandlungen, Bombardierungen, Angst vor den Rotarmisten, gegen Kriegsende auch zunehmend vor einer Liquidierung durch die SS. Mit der Befreiung durch die westlichen Alliierten endet dieser bewegend, schockierende Abschnitt. Das letzte Kapitel widmet sich der Nachkriegszeit und den vielen Schwierigkeiten, sich in einem freien Leben wieder einzugewöhnen, natürlich auch ihren intensiven Bemühungen und den zahlreichen bürokratischen Hürden ihre Kinder ausfindig zu machen.


Hört sich die Beschreibung zunächst ja mehr hauptsächlich nach einer tragischen Familiengeschichte an, wird man bei den ersten vier Abschnitten allerdings erst einmal eher über zahlreiche politische Hintergründe und Fakten aufgeklärt. Ich bin geschichtlich interessiert, und empfand das ebenfalls als äußerst interessant, vor allem weil die Autorin dabei auch zahlreiches Detailwissen eingebunden hat. Ein Hess, der sich in dem Waisenhaus Jahre vorher mit Astrologen getroffen hat, was ein Göring beim Anblick des Petersdoms gesagt hat, sind nur zwei Beispiele dafür. Emotional fesselnd wird der Bericht dann im fünften Abschnitt. Das unbeschreibliche Leid, das geschildert wird, kann unmöglich kalt lassen. Sätze wie , „Wegen der Kälte mussten wir immer wieder urinieren, und auch konnte mich nicht zurückhalten. Die Frauen ließen das Wasser laufen, während sie eng zusammenstanden, über ihre eigenen Beine und die der anderen. Das störte niemanden, im Gegenteil. Der Urin war warm und erwärmte für einen winzigen Moment die Füße, einen segensreichen Moment.“ bei der Evakuierung aus dem Lager Flossenburg oder auch „Der brennende Scheiterhaufen sah aus, als würden Teufel darauf tanzen. Während das Holz brannte, zogen sich die Körper zusammen, und plötzlich bewegten sich die Toten, hoben Hände und Füße, krümmten sich und setzten sich auf.“ beim Blick aus einem Lagerfenster, haben mich tief schockiert und betroffen gemacht. Durch die Ungewissheit, wie es mit Frey weitergehen wird, entstand für mich unglaublich viel Spannung. Wer braucht da Fiktion, wenn reale Geschichte so fesselnd sein kann? Der Autorin gelingt es in einem nüchternen, sachlichen Stil auch dem Laien einen leicht verständlichen Zugang dazu zu verschaffen.



Catherine Bailey hat für dieses Buch grandiose Recherchearbeit geleistet. Davon zeugen nicht nur die unzähligen Quellenangaben, der mit Details gespickte Text, sondern auch die Tatsache, dass sie ihren Lesern zahlreiche Originalquellen darbietet. Tagebuchaufzeichnungen, Briefwechsel, Suchanzeigen, Augenzeugenberichte, einiges an Bild- und Kartenmaterial und mehr wird präsentiert. Die Reise durch viele Lager hat mir persönlich neues Wissen geliefert, habe ich mich mit einem KZ Flossenburg z.B. bisher noch nicht beschäftigt. Dadurch, dass auch stets ein Blick auf die anderen Häftlinge und deren schreckliches Leid geworfen wird, bekommt man zumindest eine grobe Vorstellung. Höchst interessant empfand ich auch den Epilog, der schildert, wie es mit vielen der Beteiligten weitergegangen ist.


Ich ziehe meinen Hut vor allen Menschen, die so aktiv wie die hier erwähnten Attentäter, so engagiert wie ihr Vater Widerstand geleistet haben, aber ebenso vor solchen, die dies eher im Verborgenen getan haben, wie eine Frey. Ebenfalls bin ich jedes Mal wieder beeindruckt, welche Stärke die Menschen, die dem Unrechtsregime zum Opfer gefallen sind und diese Schrecken überstanden, bewiesen haben.


Gerade in unserer heutigen Zeit, in der Nationalismus und Antisemitismus leider wieder einen solchen Aufwind erleben, ist es wichtiger denn je, möglichst viele Menschen an die Schrecken unserer Geschichte zu erinnern, und sie aufmerksam zu machen, um so zu verhindern, dass sich solch ein Unrecht wiederholen kann und auch um zu Zivilcourage aufzurufen. Alles in allem sicher ein äußerst lesenswertes Buch, das fünf Sterne verdient.