Eine toxische Beziehung

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marieon Avatar

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Richard Aveling, Mitte Fünfzig, grau melierte Schläfen mit dichtem schwarzen Haar. Er ist der Vorzeigeautor des Verlags Winden & Shane und Charlie bewundert ihn schon seit Jahren. Sie hätte nie geglaubt, dass sie ihm einmal leibhaftig begegnen würde. Doch dann steht er vor ihr, als sie die Hintertür des Verlags aufstößt, um eine Zigarette zu rauchen. Charlie bewarb sich mit zweiundzwanzig, jetzt arbeitet sie seit einem Jahr dort als Assistentin der Pressearbeit unter ihrer direkten Vorgesetzten Cecile.

Ihre beste Freundin Ophelia bot ihr für kleines Geld ein Zimmer in einem Haus ihrer Eltern an. Schöner hätte sie im teuren London nirgendwo wohnen können. Jetzt wohnen sie mit Eddy in einer WG. Alle arbeiten bei Winden & Shane, kochen jeden Abend miteinander, besuchen Partys und tauschen sich über den neuesten Verlagsklatsch aus. Das hätte Charlie sich nicht träumen lassen, als sie aus dem Haus ihres Stiefvaters ausgezogen ist. An ihren richtigen Vater hat sie keine Erinnerung mehr, ihre Mom trennte sich frühzeitig und heiratete wieder. Auch das Bild ihrer Mom, ihr Geruch verblasst langsam. Sie starb, als Charlie sechzehn war.

An einem für London typischen regnerischen Montagmorgen schickt Cecile Charlie zu Avelings Wohnung, damit sie ihm die Druckfahne seines neuen Buches bringt. Cecile möchte, dass Charlie keinesfalls seine Wohnung betritt, aber dann bittet er sie mit nach oben zu kommen und lädt sie zu einem Kaffee ein. Sie kommen ins Gespräch und Charlie kann nicht anders, als diesen attraktiven, erfolgreichen Mann zu verehren.

Ich wollte locker und unkompliziert rüberkommen, ihm nicht zeigen, wie ich eigentlich war, ein nervöses Mädchen, das es allen recht machen wollte. S. 111

Fazit: Hattie Williams ist mit ihrem Debütroman etwas Besonderes gelungen. Sie lässt ihre Ich-Erzählerin die Vergangenheit rekonstruieren und schafft mit dieser fiktiven Geschichte eine Nähe von autobiografischer Schönheit. Die emotional labile Charlie trifft einen exzentrischen, verheirateten Mann, der ihr Vater sein könnte. Ihre Bedürftigkeit nach Sicherheit und das Bedürfnis, gesehen zu werden, treibt sie in eine Affäre, die er forciert. Sie ist ihm weder körperlich noch emotional gewachsen. Die Intension des Autors bleibt für Charlie nebulös. Im Laufe der Affäre spaltet er sie von ihren Freunden ab und treibt sie in die Isolation. Entweder er blockt ihren Wunsch zu reden ab, oder er erregt ihr Mitgefühl. Letztendlich geht es nur darum, sein Ego zu streicheln. Er wird größer und wichtiger, sie kleiner. Eine toxische Beziehung par excellence, die sich so subtil entwickelt, dass auch ich als Außenstehende zwischenzeitlich meine Zweifel an der Nichtaufrichtigkeit Avelings hatte. Das vorauszusehende Ende der Liaison ist grausam und weckt tiefes Mitgefühl und das Ende des Buches ist so berührend und heilsam. Die Autorin beherrscht die Kunst, sich ganz tief in ihre Figuren hineinzuversetzen und alle Gefühle zu zeigen. Auch das Thema Depression hat sie bestens umgesetzt. Chapeau, das hat mich unglaublich gut unterhalten