Das neue Normal...

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an_der_see Avatar

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Gestern fragte mich eine Freundin ob ich das Buch „Blues Skies“ von T.C. Boyle gut fand. Ich überlegte und antwortete zögernd, dass ich nicht wisse ob ich es gut fand. Was nicht bedeutet, dass ich es schlecht fand, ganz im Gegenteil. Kann man ein Buch mit den Themen, mit welchen sich Blues Skies beschäftigt gut finden?
Im Grunde ist es ein Familienroman. Die Eltern und die beiden erwachsenen Kinder, eine junge Frau und ein junger Mann in den Zeiten der Klimakrise. T.C. Boyle greift voraus, die Handlung spielt in der Zukunft. Doch wie weit er voraus greift vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht weil man es nicht sagen kann, wann die Szenarien in diesem Roman zu unserem Alltag gehören werden. Die Gegenwart hat aber schon begonnen und wir jeden Tag diesen Szenarien ein Stück näher kommen.
Die Eltern leben in Kalifornien, ihr Sohn ebenfalls. Die Tochter lebt in Florida. Der eine Staat wird von Hochwasser, ständigem Sturm und Regen heimgesucht. Der andere Staat von Dürre, hohen Temperaturen, ständigen Bränden. In beiden Staaten leben die Bewohner in ständiger Angst ihr zu Hause zu verlieren. Durch ein Feuer oder durch das Wasser, den Sturm. Sie haben sich den Umständen entsprechend eingerichtet in ihrem neuen normalen Leben. Anstelle von Fleisch essen sie Insekten, anstelle mit einem Auto fahren sie mit einem Boot, es werden Nachbarn aufgenommen die ohne Obdach dastehen, man hat sich damit abgefunden, dass es manche Lebensmittel gar nicht mehr zu kaufen gibt, andere so teuer geworden sind, dass sie nicht mehr bezahlt werden können. Der Sohn dieser Familie predigt seit seiner frühen Kindheit besser auf die Natur zu achten, sie zu schonen, der Nerd, der Spinner und wird letztlich Biologe und erforscht Schmetterlinge. Doch was soll erforscht werden, wenn es plötzlich keine Schmetterlinge mehr gibt, dafür aber Zecken die sich in seinen Arm fressen und sein Leben mit einem Schlag verändern? Die Tochter lebt vor sich hin, in einem Haus, das dem Untergang geweiht ist, mit einem Leben, dass nicht so recht beginnen mag. Sie hangelt sich durch den Tag, möchte eine erfolgreiche Influencerin werden und auf der Suche nach einem Statement, kauft sie sich eine Python. Eine kleine niedliche Schlange, die nicht klein und niedlich bleiben wird. Die Teile ihres Lebens verschlingen wird, so wie die Zecken die Gesundheit ihres Bruders.
Die Eltern leben ihren Lebensabend, sie sind beide Mitte 60, der Vater hört auf als Arzt zu praktizieren, die Mutter züchtet Grillen, Heuschrecken, kocht, schwimmt, sorgt sich um die Kinder, die Zukunft. Es werden Hochzeiten gefeiert, Menschen sterben, Menschen werden geboren, es wird gestritten, sich wieder versöhnt, es wird die Liebe des Lebens gesucht, gefunden und wieder verloren. Alles so wie ein normales Leben. Nur das es nicht mehr das alte normale Leben ist, sondern das neue normale Leben. Das Leben in der Klimakrise.
Mich hat das Buch erschüttert und sehr beschäftigt. Die Unabwendbarkeit dessen was auf uns zukommen wird, was begonnen hat, was nicht mehr aufgehalten werden kann, die Ignoranz mancher Menschen, ihre Dummheit, ihr nicht verstehen wollen oder vielleicht auch nicht verstehen können. Wann wird bei uns ein neues normal beginnen? Schleichend wird es passieren, so dass wir es vielleicht gar nicht wirklich mitbekommen. So wie die Familie in „Blues Skies“ es nicht mitbekommen hat, nicht mitbekommen wollte, den einzigen verhöhnt hat, der es ahnte. Es ist die Normalität im Leben dieser Familie die mich beschäftigt. Das Leben wird gelebt. Egal ob bei 50 Grad im Schatten, ob das Haus abbrennt, das Haus untergeht, die Insekten tot vom Himmel fallen, ein Kind stirbt, es wird nach Karriere gegriffen, nach Anerkennung, man möchte Freunde beeindrucken, sich gut präsentieren. Alles so wie immer? Nur auf einer neuen Bühne.
T.C. Boyle ist bekannt für steile Spannungsbögen, für katastrophale Wendungen, beginne ich einen Roman von ihm, frage ich mich jedes Mal, wann beginnt die Katastrophe und welches Ausmaß wird sie haben. Dazu sein großartiger Erzählstil. Präzise, ohne wegzulassen. Ausschweifend ohne überbordend zu werden. Temporeich. Wie sehr gute Musik gehen die Texte von T.C. Boyle ohne Schranke ins Gehirn. Und das machen sie in meiner Welt zu einer Art Waffe, die einen verletzen kann, ohne dass man sich davor schützen kann. Schutz wäre, seine Bücher nicht zu lesen. Was für mich aber keine Option ist. So habe ich „Blue Skies“ mit Faszination gelesen, auch mit Ekel, mit Angst, mit Abscheu. Ja, dieser Roman legt Emotionen frei, auch welche die man lieber im verborgenen lassen würde. Aber macht das nicht gerade gute Literatur aus? Und kann man dann nicht vielleicht doch sagen, dass es ein gutes Buch ist?
Am Ende meiner Gedanken zu diesem Roman möchte ich eine kleine Warnung aussprechen, wer eine Schlangenphobie und/oder eine Insektenphobie hat, möge eventuell Abstand zu diesem Roman nehmen. Schlangen spielen eine zentrale Rolle, so auch die Insekten und ihr Verhalten, ihr Äußeres werden an vielen Stellen des Buches sehr eingehend dargestellt.