Ambivalente Figuren, brutale Morde und mythische Bücher in einer Welt abgründiger magischer Schatten

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alekto Avatar

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Charlie Hall arbeitet als Barkeeperin für die alternde Domina Odette und hält sich schon seit längerem aus allem Ärger heraus. Denn sie führt nun ein geregeltes Leben, zu dem neben ihrem Job auch ihr Freund Vince und die Versuche ihre Schwester Posey zum regelmäßigen College Besuch zu überreden gehören. Bis eines Nachts dann nach einem Streit mit Balthazar, der den Schattensalon im Keller von Odettes Bar führt, ein Charlie Unbekannter in auffälligem Tweed-Anzug aus der Bar rausgeworfen wird. Doch damit haben die dramatischen Ereignisse dieses Abends kein Ende. Denn auf dem Nachhauseweg findet Charlie die grausam zugerichtete Leiche des Unbekannten, den sie nur noch anhand seines Tweed-Anzugs identifizieren kann, und sie wird von einem Wesen, das Schatten anstelle von Händen hat, bedroht.

In Book of Night erzählt Holly Black die Geschichte der ehemaligen Diebin und Trickbetrügerin Charlie Hall. In der Gegenwart führt Charlie ein geregeltes Leben, in dem sie nur noch als Barkeeperin arbeitet und keine zwielichtigen Aufträge von Balthazar mehr annimmt. Ihr ein wenig heruntergekommenes Mietshaus bewohnt sie zusammen mit ihrer Katze, ihrem Freund Vince, der als Tatortreiniger tätig ist, aber keinen Schatten hat, und ihrer Schwester Posey. Letztere bestreitet ihren Lebensunterhalt mit dem Legen von Tarotkarten und verbringt ihre Zeit mit der Recherche nach lebendigen Schatten, von denen sie besessen ist, statt das College zu besuchen.
In diesem Roman entwirft die Autorin eine phantastische Welt, die um besondere Schatten und deren Magie kreist. In dieser gehören Gloamisten, die die Schattenmagie beherrschen und sich in verschiedene Disziplinen unterteilen, zum Alltag. Zu den Gloamisten zählen die Alterationisten, die Schatten kosmetisch manipulieren können und deren Dienste somit gern von Influencern und anderen Berühmtheiten in Anspruch genommen werden. Zudem können sie Menschen auf sog. Happy Trips schicken, während derer diese eigentlich nur auf ihren Schatten ins Nichts starren, dabei aber starke, positive Gefühle erleben können. Neben den Alterationisten gibt es noch die Carapacer, die mit Hilfe ihres eigenen Schattens etwa fliegen oder sich in einen Panzer hüllen können, und die Puppeteere, über die am wenigsten bekannt ist, da sie im Verborgenen agieren und die Geschicke der Welt beeinflussen.
Dabei baut Holly Black ihre phantastische Welt in konsequenterweise Weise rund um belebte Schatten und deren Magie auf. Da in der von der Autorin geschaffenen alternativen Realität Schatten nicht nur magisch sind, sondern dieser Umstand auch der breiten Öffentlichkeit bekannt ist, bieten sich so zahlreiche Möglichkeiten, in denen die Magie der Schatten nebenher in die Geschichte mit einfließt. Das beschränkt sich nicht nur auf Schauspieler und Models, die sich ihre Schatten verschönern lassen, sondern reicht bis hin zum historischen Kontext, indem die Autorin eine eigene Geschichte der Schattenmagie und von deren Entdeckung erfindet, und zum College, an dem sich die Schatten-Thematik in eigens dafür geschaffenen Fächern studieren lässt. Eine Stärke dieses Romans ist, wie dieser meine Sicht auf Schatten beeinflusst hat, die ich zuvor als Selbstverständlichkeit kaum wahrgenommen habe und die ich nun nach dem Lesen schon ein wenig mit anderen Augen sehe.

Abwechslungsreich erzählt Holly Black ihre Geschichte auf zwei Zeitebenen, die zum einen im Hier und Jetzt spielt und zum anderen von vergangenen Ereignissen in Kapiteln, die mit Damals überschrieben sind, erzählt. So konnte ich Charlie nicht nur als ehemalige Diebin und Trickbetrügerin, die bereits 28 Jahre alt ist, kennenlernen, sondern konnte aus den in der Vergangenheit angesiedelten Kapiteln erfahren, wie Charlie zu dem Desaster namens Charlartan geworden ist. Dadurch dass ich Charlies Entwicklung in ihrer Kindheit und Jugend miterlebt habe, sind ihr Charakter und die von ihr getroffenen Entscheidungen für mich nachvollziehbar geworden. Zudem hat die Kapitel im Damals für mich interessant werden lassen, dass die Autorin darin viel über die hohe Kunst der Trickbetrügerei verraten hat. Denn Charlie erhält fast so etwas wie eine Ausbildung vom Trickbetrüger Rand, der sie unter seine Fittiche nimmt, als er sie zu seiner jungen Komplizin macht. Dabei hat Holly Black mich mit ihren ambivalenten Figuren überzeugt, die selten einfach nur gut oder böse sind, sondern stattdessen beide Seiten in sich vereinen.
An Book of Night haben mir besonders dessen überraschende Wendungen gefallen, die konsequent von der Autorin vorbereitet und so zuvor schon angedeutet werden, ohne dass ich diese dann meist habe kommen sehen. Der zentrale Twist in der Mitte des Buchs, der von einem weiteren zum Ende hin vervollständigt wird, hat so mehrfach alles zuvor Erzählte für mich auf den Kopf gestellt. Das hat die Intensität dieses phantastischen Romans erhöht, dessen Spannung leider darunter gelitten hat, dass Charlies Selbstzweifel zu viel Raum eingenommen haben. Denn Charlies Gedanken scheinen in Endlosschleife um ihre Selbstwahrnehmung als Desaster zu kreisen, da sie alles zerstören muss, mit dem sie in Berührung kommt. Diese stetige Wiederholung hat leider an manchen Stellen die sonst von der Autorin aufgebaute Spannung herausgenommen, der zugute gekommen wäre, wenn Charlies stete Sicht auf sich als Charlartan ein wenig kürzer ausgefallen wäre.
Auch erinnert mich dieser Roman aufgrund seiner Handlung, die Hauptfigur Charlie einen Mord untersuchen und weitere Geheimnisse ergründen lässt, mehr an einen düsteren Krimi mit Thriller-Elementen in phantastischem Setting als an einen klassischen Fantasy-Roman.