„Das Lesen führt weg vom Leben.“

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martinabade Avatar

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Steile These, oder? Wird es uns Lesern und Leserinnen nicht immer gepredigt? Lesen führt hin zum Leben!

Wir werden das untersuchen – im Debutroman von Leon Engler „Die Botanik des Wahnsinns“. Der junge Mann ist eine faszinierende Mischung: Psychologe, Autor und Dozent für Psychologie und literarisches Schreiben. Das legt die Latte der Erwartung hoch.

Engler schickt seinen Ich-Erzähler in die Tiefen der Geschichte. Ähnlichkeiten mit real existierenden ……….. na ja, Sie wissen schon.
Dieser begibt sich im Zuge einer Haushaltsauflösung in die Vergangenheit seiner Eltern. Ein blöder Zufall öffnet die Türen. Der Entrümpler nimmt am Ende der Aktion die noch brauchbaren Dinge mit und hinterlässt den Hinterbliebenen eben „das Gerümpel“. Akten, Korrespondenzen, Briefe, Fotos, Notizen. Und wie in einem Bestimmungsbuch tauchen wir tief in die Botanik. Er widmet sich jedem Fundstück, dringt tiefer ein in die Geschichten seiner Vorfahren, deren Leben und deren Beziehungen zueinander. Wir finden eine Botanik des Wahnsinns, nicht im literarischen sondern auch im handfesten Sinne der Psychotherapie. In dieser Familie findet sich ein halbes Handbuch der gängigen Diagnosemanuale: Die Großmutter schon bipolar, mit zwölf Suizidversuchen auf der Uhr, der Großvater Stammkunde in einschlägigen Einrichtungen, die Mutter Alkoholikerin, der Vater depressiv. Ja, es gibt einen genetischen Anteil zur Weitergabe dieser Veranlagung. Der liegt bei ca. 50%. Nicht mehr.

Mittendrin der Ich-Erzähler, der versucht, aus den Fetzen der Erinnerung in den Kartons, den eigenen Kindheitserinnerungen und den spärlich vorhandenen Fakten seine eigene Familien- und Lebensgeschichte zusammenzukleben, dem Leser anzubieten und über das erzählende Schreiben, sich selbst zu verstehen.

Um dem Ganzen ein Tüpfelchen aufzutun, landet er dann auch in der Anstalt, solche Stoffe gehen eben nicht ohne Ironie – als Psychologe.
Das Botanische führt der Autor zurück zum Übervater Carl von Linné, der die nach wie vor weltberühmten Systema naturae, das System von Pflanzen, Tieren und Mineralien geschaffen hat. Nach einer verwandt scheinenden Systematik in den heute einschlägigen Kompendien (ICD – 11, DSM 5) werden menschliche Krankheiten, körperliche wie seelische, klassifiziert.
Der Klappentext schmeichelt: “Eine aus dem Ruder gelaufene Familienanamnese? Ein Schelmenroman? Ein Lehrstück in Empathie? Leon Englers Debüt ist all das und mehr, ein zärtlicher Befreiungsschlag, die Geschichte einer Versöhnung.“ Die Presse tiriliert, dankbar um jedes lesbare Debut.

Ich möchte leise bremsen. Sprachlich ist das alles okay, aber eben auch nur das. Keine Widerhaken, kein großes Getöse, es plätscherdingst. Mit etwas Abstand spüre ich immer mal das Reißbrett hinter oder unter der Handlung. Ich empfange kein klares Signal – ist dieser Familienstammbaum eine gewollt ironische Überspitzung oder lediglich eine psychologische Leistungsschau oder bin ich einfach zu blöd? Falls Vorletzteres wünsche ich mir von Leon Engler einen therapiefreien Zweitling.