Die Vermessung der Seele

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Leon Engler, Autor verschiedener Theaterstücke und Hörspiele, hat sein Romandebüt „Botanik des Wahnsinns“ veröffentlicht, das mit einem fulminanten Einstieg beginnt: Die Wohnung der Mutter wird zwangsgeräumt und dabei alles Kostbare und ideell Wertvolle vernichtet, während der Müll und das Aussortierte aufbewahrt werden, alles aufgrund eines Fehlers des zuständigen Betreuers der Mutter - so etwas käme häufiger vor. Und mit diesen sieben Kartons Müll beginnt der Roman.
Der Roman? Autofiktion? Tagebuch? Therapieversuch?
Und damit bin ich auch schon bei der Frage, die mich unentwegt umtreibt: Ist dies die wahre Geschichte des Autors? Oder hat Leon Engler sich eine Biografie ausgedacht und übergestülpt? Eine Lügengeschichte, aufgeschneidert, aufgeblasen, von den extravaganten und unglaublichen Fallgeschichten seiner depressiven, psychotischen, bipolaren, alkoholkranken Vorfahren? Vom Vater über die Mutter, die Großeltern und noch eine Generation weiter? Detailliert und ausufernd wird über die multiplen Störungen geschichtet, Horrorszenarien aus Kinderstube, Eigen-, Obdachlosenheimen und Villen geschildert.
Andererseits, ist es überhaupt relevant, ob es wahr oder fiktiv ist? Möchte der Leser nur seinen Voyeurismus befriedigen? Eine Art True Crime? Oder ist es eine Aufarbeitung, der Schreibprozess als Therapie? Versuch der Traumabewältigung im Sinne von Annie Ernaux oder Karl Ove Knausgard? Sein Hörspiel „Satellitenbilder deiner Kindheit“ von 2022 thematisiert die Rekonstruktion der Biografie des Vaters und die Schwierigkeiten der Vater – Sohn – Beziehung. Der Roman nun als Erweiterung dieser Geschichte auf die anderen Familienangehörigen? Leon Engler hat Psychologie, Kulturwissenschaft, Film- und Theaterwissenschaft in Wien, Paris und Berlin studiert und ist also vom Fach.
Meine Resonanz auf die Vertiefung der familiären Anamnese ist zwiegespalten – von teilweise sehr originellen, boshaften, ironischen Beobachtungen und poetischen Überlegungen über die Historie, Behandlung und Einordnung von psychischen Krankheiten sind aber viele Stellen immer wieder ausufernd und langatmig. Insgesamt packt mich die Nabelschau der eigenen Familienaufstellung leider nur begrenzt und die knapp 200 Seiten ziehen sich. Der Schluss belohnt allerdings noch einmal mit interessanten Gedanken zu Geschichten und Biografien, denn jeder einzelnen Mensch und jede Familie hat selbstredend ihre eigene Geschichte, die es wert ist, erzählt und erinnert zu werden und in diesem Sinne hat Engler seinen Auftrag in Hinsicht auf die eigene Ahnengalerie erfüllt.