Entwaffnende Selbsterkenntnis
Sieben Kartons sind ihm von seiner Mutter geblieben, sieben Kartons mit Rechnungen, Briefen von Gerichtsvollziehern und Banken. Die Räumungsklage hatte sie aus ihrem letzten Refugium gespült, eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie hatte die Kisten selbst gepackt. Die Räumungsfirma sollte den Müll entsorgen und die Kisten mit den Familienfotos, Zeugnissen und Bewerbungsunterlagen einlagern. Irgendjemand hatte etwas verwechselt und jetzt waren alle materiellen Erinnerungen dem Fraß der Müllverbrennungsanlage geopfert worden.
Als er noch zur Schule ging, lebten sie in einem Haus in München, das die Mutter von der Großmutter erbte. Seine Mutter war beruflich unentbehrlich, hatte sich hochgearbeitet, sie sahen sie wenig. Sein Vater schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und seine Großmutter sah, was niemand sonst sah und hörte, was niemand hörte. Ihre Entrücktheit machte ihm Angst. Schon sein Großvater hatte die meiste Zeit seines Lebens in der Psychiatrie verbracht. Sein Vater blieb ganze Tage im Bett und war stets mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Alles wurde ihm schwer und schicksalsträchtig und so verließ er seine Familie gleich nach dem Schulabschluss und ging nach New York.
Der Wahnsinn begleitete ihn. Am Union Square fand er ein Kabuff von fünf Quadratmetern in einer Halle, abgetrennt durch alte Holzschränke, in der Mitte ein Feldbett. In West Village sah er ein spottbilliges Zimmer, mitten in einer Wohnung, in der Hunderte Porzellanpuppen drapiert waren, deren schwarze Augen bis tief in seine Seele blickten. In einer WG in Brooklyn traf er auf drei normal wirkende Mitbewohner und eine Vielzahl Kakerlaken. Er kaufte sich zwei Anzüge und fand einen Bürojob. Doch dann flog er von seinem letzten Geld nach Paris, um zu erkennen, dass die Stadt ihn verrückt machte. In Wien, die Stadt mit der höchsten Lebensqualität, wurde er schließlich sesshaft.
Fazit: Leon Engler blickt in seinem Debütroman auf eine lange Generation psychischer Erkrankungen zurück. Er durchforstet Begrifflichkeiten und versucht sich darüber zu definieren, findet sich darin aber nicht. Er sucht nach seiner Identität, seinen eigenen Anteilen in dieser genetischen Disposition. Er entwickelt Zwänge, darf nicht auf die Ritzen im Gehweg treten und hinterfragt, was er kontrollieren will. Nach einem Studium in Psychologie macht er einen einjährigen Zwischenstopp in einer Psychiatrie. Dort kommt er seiner ent-rückten Familie näher als je zuvor. Er beobachtet die Symptomenkomplexe der Schizophrenie (Großmutter) und kommt der Depression (Vater) ebenso nah wie der Abhängigkeit von Betäubungsmitteln (Mutter und Großvater). Er entdeckt den Zusammenhang zwischen dem Leiden seiner Mutter und deren eigener suizidalen Mutter. Die Geschichte wirkt autobiografisch, aber am Ende nennt sie sich Roman, vermutlich ein Verlagsentscheid, weil sich Autobiografien von Unbekannten schlecht verkaufen. Mir gefällt sehr, welche Wege ihm halfen, sich seiner Familie durch die Analyse anzunähern und sich zu versöhnen. Seine Stimmfarbe ist ruhig, aufgeräumt und auf den Punkt. Eine gelungene Familienforschung und entwaffnende Selbsterkenntnis.
Als er noch zur Schule ging, lebten sie in einem Haus in München, das die Mutter von der Großmutter erbte. Seine Mutter war beruflich unentbehrlich, hatte sich hochgearbeitet, sie sahen sie wenig. Sein Vater schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und seine Großmutter sah, was niemand sonst sah und hörte, was niemand hörte. Ihre Entrücktheit machte ihm Angst. Schon sein Großvater hatte die meiste Zeit seines Lebens in der Psychiatrie verbracht. Sein Vater blieb ganze Tage im Bett und war stets mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Alles wurde ihm schwer und schicksalsträchtig und so verließ er seine Familie gleich nach dem Schulabschluss und ging nach New York.
Der Wahnsinn begleitete ihn. Am Union Square fand er ein Kabuff von fünf Quadratmetern in einer Halle, abgetrennt durch alte Holzschränke, in der Mitte ein Feldbett. In West Village sah er ein spottbilliges Zimmer, mitten in einer Wohnung, in der Hunderte Porzellanpuppen drapiert waren, deren schwarze Augen bis tief in seine Seele blickten. In einer WG in Brooklyn traf er auf drei normal wirkende Mitbewohner und eine Vielzahl Kakerlaken. Er kaufte sich zwei Anzüge und fand einen Bürojob. Doch dann flog er von seinem letzten Geld nach Paris, um zu erkennen, dass die Stadt ihn verrückt machte. In Wien, die Stadt mit der höchsten Lebensqualität, wurde er schließlich sesshaft.
Fazit: Leon Engler blickt in seinem Debütroman auf eine lange Generation psychischer Erkrankungen zurück. Er durchforstet Begrifflichkeiten und versucht sich darüber zu definieren, findet sich darin aber nicht. Er sucht nach seiner Identität, seinen eigenen Anteilen in dieser genetischen Disposition. Er entwickelt Zwänge, darf nicht auf die Ritzen im Gehweg treten und hinterfragt, was er kontrollieren will. Nach einem Studium in Psychologie macht er einen einjährigen Zwischenstopp in einer Psychiatrie. Dort kommt er seiner ent-rückten Familie näher als je zuvor. Er beobachtet die Symptomenkomplexe der Schizophrenie (Großmutter) und kommt der Depression (Vater) ebenso nah wie der Abhängigkeit von Betäubungsmitteln (Mutter und Großvater). Er entdeckt den Zusammenhang zwischen dem Leiden seiner Mutter und deren eigener suizidalen Mutter. Die Geschichte wirkt autobiografisch, aber am Ende nennt sie sich Roman, vermutlich ein Verlagsentscheid, weil sich Autobiografien von Unbekannten schlecht verkaufen. Mir gefällt sehr, welche Wege ihm halfen, sich seiner Familie durch die Analyse anzunähern und sich zu versöhnen. Seine Stimmfarbe ist ruhig, aufgeräumt und auf den Punkt. Eine gelungene Familienforschung und entwaffnende Selbsterkenntnis.