Familie, System und transgenerationales Trauma

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jana_f.s. Avatar

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Leon Englers Debütroman "Die Botanik des Wahnsinns", der im August 2025 bei Dumont erschienen ist, entfaltet sich als vielschichtige Auseinandersetzung mit dem psychischen Erbe innerhalb einer Familie, die seit Generationen von unterschiedlichen Formen psychischer Erkrankung geprägt ist. Ausgehend von sieben Kartons, die der Ich-Erzähler nach dem Tod seiner Mutter findet, rekonstruiert er die fragmentarischen, von Krankheit, Sucht und Krisen durchzogenen Lebensgeschichten seiner Angehörigen. Dabei wird das Motiv der Vererbung von psychischen Störungen nicht nur narrativ, sondern auch fachlich reflektiert: Der Erzähler studiert Psychologie, um dem familialen Schicksal zu entkommen, und gerät paradoxerweise als Psychologe in die institutionelle Nähe desjenigen Systems, dem er zu entrinnen suchte.

Englers Erzählweise bewegt sich konsequent im Spannungsfeld von Autofiktion und Theorie. In einem Interview (https://www.martinthomaspesl.com/blog/2025/8/25/ich-hatte-solche-ehrfurcht-dass-nie-etwas-gepasst-hat-interview-mit-leon-engler-auf-buchkulturnet) betont er die unauflösbare Verschränkung von Erinnerung und Imagination, wodurch die Grenze zwischen autobiographischem Zeugnis und literarischer Konstruktion bewusst verwischt wird. Damit gelingt es Engler, individuelle Erfahrung mit fachpsychologischem Wissen zu verschränken und so einen Text zu schaffen, der zugleich Familienchronik, Reflexion über das Normale und Deviante sowie existenzielle Selbstbefragung ist.

Insgesamt erweist sich "Die Botanik des Wahnsinns" als ein literarisch wie intellektuell anspruchsvolles Werk, das gleichermaßen von intimer Nähe und analytischer Distanz geprägt ist. Engler gelingt es, die Dialektik von Verstrickung und Selbstbehauptung, von Angst vor Wiederholung und Suche nach Autonomie in einer Sprache zu fassen, die Reflexion und Poetik miteinander verbindet. Das Resultat ist ein Roman, der nicht nur die Grenzen zwischen Literatur und Psychologie überschreitet, sondern auch eine präzise wie empathische Kartographie des "familiären Wahnsinns" entwirft.