Lieber verrückt als einer von euch?

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Es gibt ein Klischee über Psychologinnen und Psychologen: die hätten das alle studiert, um sich selbst besser zu verstehen. Oder zumindest ihre verrückte Familie. Ich habe selbst Psychologie in Wien studiert und kann aus Erfahrung sagen: da ist durchaus ein bisschen was dran. Wer aus einer absolut glücklichen Familie ohne Probleme kommt - falls es so etwas irgendwo geben sollte - entwickelt selten so ein tiefgreifendes Interesse für die Menschen und ihre seelischen Abgründe. Selbst Erfahrung mit psychischen Erkrankungen im persönlichen Umfeld zu haben, kann aber auch durchaus ein Vorteil für die berufliche Arbeit in diesem Bereich sein: wenn diese Erfahrung gut verarbeitet und reflektiert wurde.

Ein leuchtendes Rollenvorbild dafür ist der Psychologe und Autor Leon Engler. In seinem autofiktionalen Roman erzählt er berührend, einfühlsam und zugleich humorvoll von seiner eigenen Familiengeschichte und seinem Weg hin zur Psychologie sowie von seinen Erfahrungen mit einer einjährigen Tätigkeit als Psychologe an einer Wiener stationären Psychiatrie nach seinem Studium, wo er auf verschiedenen Stationen mit an Schizophrenie Erkrankten, Depressiven sowie Suchtkranken arbeitet.

Seit frühester Kindheit prägen die diversen psychischen Erkrankungen seiner Eltern und Großeltern sein Leben: die Großmutter überlebt zwölf Suizidversuche, bis sie am Ende doch in höherem Alter an einer körperlichen Erkrankung stirbt. Geplagt von Depressionen und Angstzuständen, verriegelt sie ständig alle Fenster und Türen, verdunkelt das Heim mit Vorhängen und lebt doch in ständiger Angst vor imaginierten Feinden und Verfolgung. Ihre Tochter, die Mutter des Autors, ist fest entschlossen, nicht in ihre Fußstapfen zu treten, übt das ständige Lächeln und Fröhlich-Sein, schafft es mit hoher Begabung und Glück trotz kaum formaler Ausbildung zur erfolgreichen Journalistin... und wird doch später ebenfalls von Depressionen und Alkoholsucht eingeholt.

"Sie war so kraftlos, so hoffnungslos, so lebenslos, lag herum wie die Wäsche, die sie nicht mehr wusch, und die Briefe, die sie nicht mehr öffnete." (S. 147)

"Ich habe Jahre damit zugebracht, mir diese Frage zu stellen: Warum? Es hätte doch nicht sein müssen." (S. 148)

Auch auf der väterlichen Seite sieht es nicht viel besser aus: der Vater des Autors wurde von seiner minderjährigen Mutter zur Adoption freigegeben, er war als Kleinkind mehrmals längere Zeit in Waisenhäusern, die erste Adoptivmutter starb, die nächste erlebte er als nicht sehr fürsorglich. Auch er wird zeitlebens mit Depressionen kämpfen und schließlich fast mittellos ein Leben am Rande der Gesellschaft führen.

Was bedeutet das für den Autor? Die hohe erbliche Komponente psychischer Erkrankungen ist bekannt und auch der Autor, der schon vor dem Psychologiestudium Werke diverser Autoren und Autorinnen in diesem Bereich geradezu verschlingt, erfährt bald davon. Er liest sich in das Thema ein und er ist der erste in seiner Familie, der nicht einfach von psychischen Erkrankungen eingeholt werden und darüber schweigen will, sondern sich schon im Vorfeld aktiv damit beschäftigt und konfrontiert. Denn so wie seine Familie möchte er es nicht machen:

"Wir sagten nicht, was wir gerne gesagt hätten, das taten wir nie. Wir waren aber auch nie zufrieden mit dem, was wir stattdessen sagten. Es blieb an der Oberfläche. Darunter sammelte sich, wie Staub unter einer alten Couch, das Nicht-Gesagte." (S. 13/14 im E-Book)

In Wien freundet er sich mit seinem Nachbarn an, einem eigensinnigen, aber sehr gebildeten älteren Herren, der ihm am Ende einen großen Teil seiner Fachbibliothek hinterlässt und dessen weise Sprüche den Autor noch über dessen Tod hinaus prägen werden. Beispielsweise überlegt er als junger Mann lange, was er studieren solle, ob Theaterwissenschaft, Literatur oder doch Psychologie (schließlich wird er mit Theaterwissenschaft beginnen und später Psychologie als Zweitstudium dazunehmen). Der Nachbar rät ihm dazu, sich mit den großen Werken der klassischen Literatur zu beschäftigen, da lerne er mehr über die Menschen als im statistiklastigen Psychologiestudium:

"Dann erzählt er mir von seinem Lieblingsbaum. Halb Orange, halb Zitrone. In der Orangerie stehe dieser Baum. Die Literatur, das seien die Zitronen, die Psychologie die Orangen. Beides eine Familie, beides hänge am selben Stamm. Aber die Zitrone sei botanisch gesehen älter." (S. 21)

Die Frage nach den psychischen Erkrankungen in seiner Familie und deren Erblichkeit lässt den Autor aber sowieso nicht los. Er beschäftigt sich auch mit der historischen Entwicklung des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen, die in Verhalten oder Erleben von der damaligen Norm abwichen, und lässt uns im Buch an seiner Reise teilnehmen. An dieser Stelle hat das Buch auch Sachbuchkomponenten und man erfährt so einiges Interessantes und Wissenswertes über den Wandel in der Einstellung gegenüber psychisch Erkrankten:

"In Europa ging man mit Geisteskranken lange vor allem so um: Man grenzte und stellte sie aus. (...) In Wien widmete man den Narren im 18. Jahrhundert einen fünfstöckigen Turm mit Wänden dick wie Festungsmauern, eine der ersten Irrenanstalten der Welt." (S. 37)

Schließlich konfrontiert sich der Autor nach abgeschlossenem Psychologiestudium ganz bewusst mit dem Ort, an dem so viele seiner Vorfahren immer wieder gelandet wird und zu denen es dort zum Teil bis heute dicke Akten gibt:

"Ein seltsames Gefühl: sich in der Psychiatrie gut aufgehoben zu fühlen. Aber warum nicht? Hierhin kann ich den Weg meiner Familiengeschichte verfolgen wie die Spur einer Schnecke. Meine Familie hat ein Talent für Verrücktheit." (S. 57)

Ehrlich und reflektiert beschreibt er, wie sehr auch die Ärztinnen und Ärzte, Psychologen und Psychologinnen oft immer noch im Dunkeln tappen, wenn es darum geht, ihren psychisch kranken Patienten zu helfen. Und dass oft gar nicht so leicht erkennbar sei, wer Helfer und wer Patient sei: als er einmal sein Namensschild nicht trug, wurde er von einer Pflegerin aus dem Pausenraum geschmissen, weil sie ihn für einen Patienten hielt und ihm nicht glaubte, dass er ein Psychologe sei, denn das würden auch die Patienten ständig von sich behaupten.

Klar gibt es viele wissenschaftliche Modelle, Theorien und Studien zu den diversen psychischen Erkrankungen, doch die einzelnen Patienten funktionieren nicht unbedingt nach Manual, und am besten müsse man für jeden seine individuelle Therapie erfinden:

"Wir besprechen mit den Patienten die unzähligen Theorien, Fakten und Modelle zur Depression. Doch ebenso besprechen wir die unzähligen Ungewissheiten, Mysterien und Zweifel." (S. 111)

Nicht zu viel erwarten solle man vom Aufenthalt in der Psychiatrie oder von der Therapie. Oft sei es schon ein großer Erfolg, aus einem extremen Elend ein ganz normales Unglück zu machen... denn absolut glücklich sein? Das sei ein sehr hohes Ziel, das auch die meisten scheinbar normalen, in unserer Gesellschaft bis jetzt funktionierenden Menschen nicht vollständig erreichen würden.

Sehr sympathisch finde ich auch, dass der Autor im Buch immer wieder klarstellt, dass das, was wir als psychisch krank definieren und die Umstände, die dazu führen, dass Menschen in der jeweiligen Gesellschaft nicht so funktionieren (können oder wollen), wie wir das gerne hätten, immer auch sehr viel mit der jeweiligen Gesellschaftsordnung zu tun hat:

"Evolutionär betrachtet ist der Schmerz nicht die Krankheit. Er ist ein Warnlicht, das darauf hinweist, dass es ein Problem gibt. Ich glaube nicht, dass mein Vater das Problem war." (s. 152)

Das ist etwas, was die Psychiatrie aber kaum adressieren oder verändern könne, dort sei nicht der richtige Ort für gesellschaftliche Veränderungen, und das Personal dort schon mit der täglichen Arbeit, den Personalengpässen und den vielen hilfsbedürftigen Patienten voll ausgelastet bis überfordert.

"Botanik des Wahnsinns" ist ein liebevoll geschriebenes, humorvolles und zutiefst berührendes, persönliches Buch über den Umgang eines sehr weisen und reflektierten jungen Menschen mit einer herausfordernden Familiengeschichte. Trotz all der Dunkelheit scheint so viel Wärme und Liebe aus diesem Buch und es wird spürbar, wie sehr dem Autor sowohl seine Familie als auch insgesamt Menschen, die sich schwer tun, ihren Platz in unserer leistungsorientierten Gesellschaft zu finden, am Herzen liegen und wie er ehrlich nach Antworten auf seine Fragen sucht.

Ich kann das Buch allen, die sich für das Thema psychische Erkrankungen in der Familie und im Wandel der Zeit interessieren, nur sehr ans Herz legen: in diesem persönlichen Memoir liest man nicht nur eine berührende Geschichte, sondern kann auch jede Menge lernen und wird selbst aufgefordert, die Gesellschaft, in der wir leben, zu hinterfragen.

Dazu noch ein letztes der unzähligen schönen Zitate aus diesem besonderen Buch: in dieser Szene beendet der Autor seinen einjährigen beruflichen Aufenthalt auf der Psychiatrie und erhält ein Abschiedsgeschenk:

"Ich packe das Geschenk aus. Eine Kaffeetasse: Lieber verrückt als einer von euch." (S. 154)