Relativierung des Wahnsinns

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hennie Avatar

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Zuerst ist mir das verrückt schöne Cover aufgefallen. Da sind weder bestimmte Blumen noch bekannte Vögel abgebildet! Nach der Lektüre des Buches fiel mir auf, wie natürlich und unverkrampft der Titel und die Illustration bei dem Thema zusammenpassen.

Autor Leon Engler verarbeitet mit Botanik des Wahnsinns seine eigene familiäre Geschichte, ein Stammbaum des Wahnsinns. Die Großmutter bipolar, zwölf Suizidversuche, der Großvater Stammkunde in Steinhof, die Mutter Alkoholikerin, der Vater depressiv. Und er blickt auf seinen eigenen Weg: Eine Kindheit im Münchner Arbeiterviertel. Die frühe Angst, verrückt zu werden. Die Flucht vor der Familie ins entfernte New York. Jahre in Wien mit Freud im Kaffeehaus. Und wie er schließlich doch in der Anstalt landet – als Psychologe. (Auszug aus dem Klappentext)

In 46 kurzen Kapiteln gelingt es ihm sehr eindrucksvoll episodische Einblicke in diese emotional komplizierte Familiengeschichte zu geben. Der Roman beginnt ungewollt komisch mit der Verwechslung des Hausrats der Mutter bei der Zwangsräumung ihrer Wohnung. Alles von Wert und damit auch die Erinnerungen landen in der Müllverbrennungsanlage. Es verbleiben die wert- und belanglosen Überreste.
Fragmentarisch springt er zwischen den Generationen seiner Familie hin und her. In die Biografie seiner Mutter gibt er tiefere episodenhafte Einblicke. Auch mit dem Vater setzt er sich intensiver auseinander. Dabei gefällt mir, wie der Ich-Erzähler es versteht, nicht zu urteilen oder zu verurteilen. Die Authentizität berührt mich. Es wird berichtet mit einer Wahrhaftigkeit, mit einer Klarheit, mit wunderbarer Echtheit, die mich tief beeindruckt. Seine Gedanken, die er ohne Anklage gegen irgendwen niederschreibt, sind wohlformuliert, mit Zitaten durchsetzt und durch seine Arbeit als Psychologe sehr professionell. Es gibt höchstens mal klitzekleine Anklänge von Wut, die hervorblitzen, aber wer will ihm das bei solch einer Häufung von psychischen Erkrankungen in einer, nämlich seiner Familie verdenken!? Ganz stark auch, wie er das mitteilt, wie heute in der Psychiatrie die Menschen gegenüber früheren Zeiten behandelt werden. Jede Person in der Klinik ist ein Individuum, nicht die Diagnose.
"Die Psychiatrie ist alles mögliche, aber kein Ort für einfache Antworten... Die Psychiatrie ist kein Ort für gesellschaftliche Fragen.“ S. 96

Leon Engler hat mir mit dieser Erzählung den Wahnsinn relativiert. Was und wer ist schon normal?

Ich vergebe meine Lese- und Kaufempfehlung mit der Höchstbewertung!