Krasses Buch!

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kascha Avatar

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Freundschaft auf Zeit mit Ivor, Marco, Jonas und Arjan

Oliver Lovrenski öffnet mit seinem Roman "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann", die brutale, verletzliche, harte und doch so menschelnd-verbundene Lebensrealität junger Menschen in unserer heutigen Zeit, die keine Chance auf Integration haben. Weil sie einen Migrationshintergrund haben oder weil sie aus Familien stammen, die weit unterhalb der Mittelschicht existieren…
Mit einer beeindruckenden Sensibilität und einem scharfen Blick für diese Lebensrealität werden die Leser:innen in dieses Leben mitgenommen und lesen nicht nur darüber, sondern empfinden Seite für Seite, wie es sich anfühlt, schon in jungen Jahren wenig Perspektiven zu haben.

Ivor, Jonas, Marco und Arjan sind jung, voller Ängste, Pillen und trotzdem Hoffnung. Ihre Eltern leben in der Peripherie, Polizei und Jugendamt sitzen ihnen stetig im Nacken, die Schule ist ein Angebot, das sie weitestgehend dankend ausschlagen. Sie sind rastlos, denn zwischen den schicken Bars und hyggeligen Cafés Oslos gibt es keinen Platz für sie. Also treiben sie sich herum und geraten Tag für Tag, line für line tiefer in eine Welt des Rauschs, der Gewalt und Kriminalität. Die Liebe zueinander und der bedingungslose Zusammenhalt macht sie unbesiegbar – bis einer von ihnen zu weit geht und ihre unheile Welt vollends zerbricht.

Die unverfälschte Darstellung dieser junger Menschen, die sich abseits konventioneller Lebenswege bewegen, steht im Mittelpunkt des Buches. Lovrenski schildert ihre Welt ohne Umschweife: Es gibt keinen Platz für romantisierte Bilder, sondern einen schonungslosen Blick auf die Realität. Dabei verliert der Autor nie den menschlichen Kern aus den Augen – trotz all der Härte und des Chaos, das den Alltag seiner Protagonisten bestimmt. Die direkte Sprache und ganz besondere Erzählweise schaffen es, die Lesenden direkt ins Geschehen zu ziehen und ihnen das Gefühl zu geben, die Straßen Oslos selbst zu durchstreifen.

Die Figuren Ivor, Marco, Jonas und Arjan sind in ihren Eigenheiten scharf und facettenreich gezeichnet. In ihrer rastlosen Suche nach Zugehörigkeit aber auch in ihrem unendlichen Streben nach Freiheit wird der Familienbegriff immer wieder neu definiert: Nicht blutsverwandtschaft sondern Liebe und inniger Zusammenhalt schaffen für die vier eine Art familiären Hafen, in den sie immer wieder zurückkommen können. Lovrenski gelingt es, diese doppelte Natur ihrer Existenz eindrucksvoll zu porträtieren: Einerseits ein Leben voller Schmerz und Verlust, andererseits ein Zeugnis der Kraft, die in zwischenmenschlichen Beziehungen liegt.

Durch den besonderen Schreibstil finden Leser:innen keine lineare Geschichte. Vielmehr ist der Roman eine Art Mosaik, in dem jede Episode ein kleines Stück der Wirklichkeit widerspiegelt und Steinchen für Steinchen, Seite für Seite mehr vom Gesamtbild erkenntlich wird. Die Erzählstruktur, die zwischen intensiven Momenten und ruhigeren, fast nachdenklichen Passagen wechselt, lässt genügend Raum zum Nachdenken und verdeutlicht, wie dünn der Grat zwischen Verzweiflung und Hoffnung sein kann. Damit zeigt Oliver Lovrenski einmal mehr, dass inmitten von Rausch und Gewalt auch Zärtlichkeit und Menschlichkeit blühen können und die Welt keineswegs in Schwart und Weiß unterteilt werden kann. Eine Botschaft, die in der heutigen Zeit von unschätzbarem Wert ist.

"Bruder, wenn wir nicht Family sind, wer dann” ist ein authentisches Porträt einer Generation, die in einer nahezu feindseligen Umgebung ihren Platz zu finden versucht. Das Werk lädt dazu ein, die Komplexität moderner Jugend nicht nur zu verstehen, sondern auch zu fühlen. Trotz der schonungslosen Darstellung harter Realitäten schafft der Autor es, die Leser:innen mit einer tiefen Empathie für seine Figuren zu berühren und ihnen einen Raum zu bieten, in dem Zärtlichkeit selbst in den unerwartetsten Momenten aufblüht.