Aufrüttelnde Gänsehautliteratur

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sendorra Avatar

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„Das Meer glitzerte spiegelglatt im Sommerschlaf. Vielleicht war es ihm zu heiß, um sich zu bewegen.“ Auch Oscar ist es zu heiß. Und zu langweilig. Warum nur konnten sie nicht seinen besten Freund mitnehmen. Nun sitzt er hier ganz allein mit seinen Eltern und Hundeseniorin Lucy auf einem Segelboot. Mitten im endlosen Blau des Mittelmeers. Und das noch mehr als drei Wochen.

Nur wenige Stunden später kann von Langeweile keine Rede mehr sein. Denn Lucy spielt plötzlich verrückt. Hört nicht auf zu bellen. Bis auch ihre Menschen die beiden Kinder entdecken. Die sich mit letzter Kraft an den rot-weißen Rettungsring klammern.

Beherzt retten Oscars Eltern die beiden. So landen Nala und ihr kleiner Bruder Moh auf dem Boot der deutschen Urlauber. Nach und nach wir klar: Die Kinder haben schon eine schreckliche Odyssee hinter sich. Mit ein paar Brocken Französisch, Wasserfarbbildern und Nalas großem Sprachtalent erfährt die Familie von ihrer traumatischen Flucht.

In jedem Hafen versuchen Oscars Eltern nun, die Flüchtlingskinder unterzubekommen. Doch mit den dunkelheutigen Kindern dürfen sie in den meisten Häfen noch nicht einmal an Land.

Weder in Griechenland noch in Italien will man die Verantwortung übernehmen. Erst in Spanien keimt die Hoffnung, eine Lösung zu finden.

Oha! Cornelia Franz erwischte mich kalt mit ihrer modernen Odyssee. Die Gänsehaut, die „Calypsos Irrfahrt“ bei mir auslöste, blieb lange. Stellt sich beim Schreiben dieser Zeilen wieder auf. Prompt kehrt das Frösteln zurück. Das Unwohlsein.

Zusammen mit der Familie saß ich auf der Calypso fest. Ärgerte mich mit den Eltern darüber, dass der Jahresurlaub nun so anders wurde. Doch ja, verdorben wurde. Auch wenn wir es den Kindern natürlich niemals zeigen würden. Gute Mine zum bösen Spiel machen. Das tun, was nötig ist.

Gewöhnte mich mit ihnen an die traumatisierten Kinder. Gewann sie lieb. Machte mir Sorgen. Wollte sie in den Arm nehmen. Ein Zuhause suchen. Sie gar mit zu mir nach Hause nehmen. Doch…das geht doch nicht!…

Franz gelingt es schmerzlich, die Schönheit des Meeres und den Reiz des Segelns zu vermitteln. Gleichzeitig weckt sie eine wahnsinnige Beklommenheit. Ein intensives Verstehen. Rüttelt uns auf, aus unserem gemütlichen Wohlstandsidyll.

Ich empfehle „Calypsos Irrfahrt“ nicht nur Kindern und Jugendlichen ab zehn Jahren. Ich empfehle es als Pflichtlektüre allen Erwachsenen, bei denen nicht jegliche Hoffnung auf mitfühlende Vernunft verloren ist.

Sie bleibt nicht aus, bei der Lektüre. Die Frage: Wie würde ich reagieren? Was kann man bloß tun. Was kann ICH bloß tun. Zu wenig. So viel zu wenig! Ich sitze hier in unserem reichen Deutschland und fühle mich machtlos. Hilflos.

Ich bin nicht sonderlich mutig. Bin keine Kapitänin. Keine Ärztin. Habe meine Verantwortung hier. Für meine beiden Weltenretter. Aber eben, weil ich im reichen Deutschland sitze, kann ich mir immerhin Ablassbriefe kaufen. Bei Organisationen wie Sea-Watch und Co. Wer macht mit?