Die Vampirin, von der sich Bram Stoker inspirieren ließ

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
schmiesen Avatar

Von

"Bestimmt hast du schon einmal geliebt, Carmilla, und auch lebt jetzt eine Herzensangelegenheit in dir."

Laura lebt zurückgezogen mit ihrem Vater in einem Schloss tief in der Steiermark. Als eines Tages die schöne Carmilla nach einem Kutschunfall von ihrer Mutter zur Pflege bei ihnen zurückgelassen wird, ist Laura entzückt über die neue Freundin. Zwischen den beiden jungen Frauen entwickelt sich ein spannungsgeladenes Verhältnis - bis im Dorf immer wieder Bauernmädchen auf rätselhafte Weise ums Leben kommen, und auch Laura von der merkwürdigen Krankheit befallen wird.

Sheridan Le Fanu hat wohl den ersten Vampirroman aller Zeiten geschrieben, und er handelt nicht nur von einer weiblichen Vampirin, sondern von einer lesbischen noch dazu. Schaurig-schöne Momente durchziehen diese Novelle, in der zwischen Traum und Wirklichkeit schwer zu unterscheiden ist. Leider sind auch manche Erzählstränge nicht voneinander zu unterscheiden, da doch sehr viele Abstammungen und Historien miteinander in Verbindung gebracht werden, ohne sie wirklich auszuführen. Dadurch wirkt die Geschichte immer wieder eigentümlich unauthentisch und nicht zu Ende gedacht. Aber das Gefühl, in einer düsteren Welt gelandet zu sein, in der alles zwei Gesichter hat, ist sehr eindringlich.

Gerade die erste Hälfte, als Laura und Carmilla sich kennenlernen, ist geprägt von einer subtilen Erotik: Zu zweit verbrachte Abende auf Carmillas Zimmer, Küsse auf Wangen und Gesicht, "allerlei Schönes", das Laura mit ihr erlebt und worüber sie nicht schreiben kann. Diese angedeuteten erotischen Abenteuer vermischen sich mit den nächtlichen Schreckensszenen - Dorfmädchen sterben reihenweise, in Lauras Träume schleichen sich düstere Gestalten, auch sie wird von der mysteriösen Krankheit befallen und immer schwächer. Natürlich ist der modernen Leserin klar, wer hier die Übeltäterin ist, und wie sie die merkwürdigen Dinge anstellt, die sie tut (z.B. aus einem verschlossenen Zimmer verschwinden). Das mindert nicht den Gruselfaktor, der durch die archaische Erzählweise und das abgelegene Setting nur verstärkt wird. Das Ende kommt dann recht abrupt und wird von Laura nur aus Berichten geschildert - ein deutlicher Bruch in der Erzählung, der Tiefe und Emotion vermissen lässt.

Insgesamt ist "Carmilla" (übrigens eine schreckliche Untertitelung - warum denn "Der weibliche Vampir" statt "Die Vampirin"?) ein lesenswerter Gothic-Schauer-Klassiker, der alle Elemente des Genres vereint. Im heutigen Sinne queer ist die Story noch dazu - nicht nur wegen der lesbischen Lovestory, sondern auch wegen der für das viktorianische England eher ungewöhnlichen Geschlechterverteilung.