Vergeltung ist ein teurer Luxus

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owenmeany Avatar

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Gemächlich gleitet man in diese anscheinend harmlose Familiengeschichte mit einem unspektakulären Ferienambiente und kann nicht aufhören, weil einen die Charaktere interessieren, beiläufig dargeboten im O-Ton, wie in einem Kneipengespräch über einen Pitcher gebeugt. Ich mag diesen typischen Don Winslow-Tonfall: die obercoole, abgeklärte Stimme eines Insiders, eines Bescheidwissers, der sich von nichts aus der Ruhe bringen lässt.

Dabei ist die epische Dimension keineswegs zu vernachlässigen. Die Charaktere verkörpern Archetypen, die Verwicklungen könnten Homer oder Shakespeare entlehnt sein, die vorangestellten Zitate aus Ilias und Aeneis deuten das schon an. Dabei wurde ich mehrfach an Nesbos genialen "Macbeth" erinnert. Anhand des kriminellen Milieus aus irischen und italienischen Mafiafamilien zeigt Winslow auf, wie Kriege ausbrechen und sich entwickeln, mit all ihren Alliancen und zerstörerischen Schlachten.

Es geht um Ehre, Kränkung, Rache, aber natürlich auch ganz geschäftsmäßig um Geld, denn man hat ja Frau und Kinder zu ernähren. Meistens sind es Kleinigkeiten, die Gier und die Unbeherrschtheit Einzelner, die das Misstrauen säen und die Konflikte anschwellen lassen. Dumme Zufälle kommen noch erschwerend hinzu, aber "shit happens". Wie chemische Prozesse laufen die wechselnden Bündnisse ab. Als Katalysator dienen häufig Frauen, im positiven wie im negativen Sinn, das verleiht Dannys wieder aufgetauchter Mutter eine interessante Rolle.

Man muss sich die Namen gut merken können und die Familienzugehörigkeiten, um den Überblick nicht zu verlieren, da aber alle Agierenden durch eine Vorgeschichte skizziert werden, hat man sie plastisch vor Augen.

Bei den Altgedienten herrscht trotz aller Skrupellosigkeit sogar noch ein gewisses Ethos: "... was wenn seine Frau und seine Kinder in dem Wagen gewesen wären?" (S. 205). Glücklicherweise halten sich die Brutalitäten leidlich in Grenzen im Vergleich zu "Tage der Toten". Zu diesem Thema hat sich Winslow vor Kurzem in einem Interview gerechtfertigt: seine Recherchen haben ergeben, das das einfach die Realität darstellt in dieser Szene.

Ursprünglich beherrschen Iren und Italiener das Feld, dann holen die Iren noch Schwarze Drogenhändler ("Zulus") ins Boot - trotz ihres tiefsitzenden Rassismus, aus rein pragmatischen Gründen. Das erste Treffen letzterer ist wie ein Kabinettstücken der Satire verfasst: "Das ist Neokolonialismus. Weiße verkaufen Drogen in Schwarzen Vierteln." (S. 260)

In all der Unmenschlichkeit menschelt es immer wieder ganz gewaltig, das hält die Maschine am Laufen, erzeugt aber schwer erträgliche Kontraste aufgrund der daraus entstehenden Schizophrenie.

Schon lange habe ich nicht mehr einen derartigen Pageturner in wenigen nächtlichen Sitzungen gelesen. Ich freue mich auf die Fortsetzung.