In einem Land vor unserer Zeit

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Dass das Buch optisch eine Augenweide ist, ist klar – und ausnahmsweise wird das Cover mal erwähnt, deutet sich doch hier schon an, dass es um einen Blick hinter die Kulissen geht – und um genau den geht es in „Coast Road“ letztlich auch, und zwar in Form einer Geschichte über eine Frau in den 1990er-Jahren.

Colette Crowley, unkonventionell (jedoch nicht so sehr, wie es die Berufsbezeichnung Dichterin in Deutschland erahnen ließe), verlässt ihren Mann und ihr (namentlich zwar an Ardglass angelehntes, aber fiktives) Heimatdorf Ardglas und lässt zwangsweise auch ihre Söhne zurück. Dass man sich über sie das Maul zerreißt, ist klar; umso mehr als ihr Ausbruch sich als gescheitert erweist und sie zurückkehrt. Von nun an steht sie quasi Vollzeit unter Beobachtung und ist Kern des öffentlichen „Moraldiskurses“ (Tut ihr Mann gut daran, ihr den Zugang zu den Kindern zu verwehren?), bekommt aber auch Hilfe – mit ungeahnten Folgen.

Alan Murrins „Coast Road“ ist ein in vielerlei Hinsicht erstaunliches und gutes Buch, was an vielen Kleinigkeiten und der Gesamtkonstellation liegt. Zum einen siedelt Murrin die Handlung kurz vor der (unerwarteten) Legalisierung der Scheidung in Irland an – an sich schon ein für viele unerwarteter Fakt, dass das gerade mal ca. 30 Jahre her ist. Zum anderen ist er „ein typischer Ire“: Er erzählt gern und gut, wobei er zudem meist ins Schwarze trifft, etwa seiner Beschreibung dörflicher Strukturen bzw. des Lebens dort, und damit sind nicht nur der dörfliche Tratsch gemeint, sondern auch die Einzelbeispiele, die er vorwiegend an den Paaren bzw. Familien seiner Protagonisten demonstriert: die Frau ist untergeordnet, selten erfüllt, funktioniert aber. Wie es der irische Humor will, lässt er Izzy mit einem Lokalpolitiker verheiratet sein, der sich für die Legalisierung von Scheidungen einsetzt. Gekonnt hält er insbesondere der irischen Gesellschaft (und jeder anderen, die von der Oberfläche einmal abgesehen, noch genauso tickt) den Spiegel vor und übt Kritik an derartigen Verhältnissen. Die haben sich zwischenzeitlich in weiten Teilen Irlands und auch in ländlichen Gegenden geändert, aber nicht durchgehend und mehr als einmal erwischte ich mich dabei, wie ich an bestimmte Situationen dort bzw. solche (auch) Freunde mit Iren erlebt haben, denken musste. Diese ganz persönlichen Erfahrungen hat vielleicht nicht jeder, machen das Buch für mich aber zu etwas Besonderem, weshalb ich ihm auch einzelne Schwächen (vor allem die Männer werden weitgehend doch sehr klischeebehaftet geschildert, der Start in die Geschichte war etwas „zögerlich“) verzeihe und volle Punktzahl vergebe für ein Buch, das mir lange im Gedächtnis bleiben wird.