„Männer töten Frauen, weil es eben geht.“

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Mit „Da, wo ich dich sehen kann“ veröffentlicht die Biologin und Schriftstellerin Jasmin Schreiber einen Appell an alle Menschen beim Thema häusliche Gewalt und Femiziden nicht wegzusehen. Diese Straftaten, die keine Seltenheit haben, sondern mehrfach täglich passieren, nicht als alleinstehendes Ereignis, sondern als gesamtgesellschaftliches Phänomen wahrzunehmen und im besten Fall aktiv zu werden. Mehr Fragen zu stellen, sowohl an mögliche Betroffene als auch an den Gesetzgeber.

Kommt dieser Roman zwar sprachlich leichtfüßig daher und hat einen unkomplizierten Lesefluss, doch erzeugt er damit nur eine umso größere Wucht, mit der das Thema bei den Lesenden einschlägt. Wir lernen gleich zu Beginn die neunjährige Maja in einer Therapiesitzung kennen. In Therapie muss sie, weil sie ihre Mutter von ihrem Vater stranguliert als Erste tot aufgefunden hat. Seither plagen sie Angstzustände und Alpträume. Verständlich. Aber nicht nur Maja ist direkt betroffen vom Tod ihrer Mutter Emma. Auch das Leben Emmas Eltern und der besten Freundin Emmas Liv wird nie wieder dasselbe sein. Alle fragen sich, warum sie den jahrelangen physischen und psychischen Missbrauch an Emma nie mitbekommen haben, warum sie nie genauer nachgefragt haben, wenn sie bedrückt wirkte. Und so erfahren wir in wechselnden Perspektiven sowohl wie es seit dem Femizid an Emma für deren Hinterbliebenen weitergeht, als auch durch Rückblenden, wie erste Warnzeichen in der Beziehung zwischen Emma und ihrem Mann auftraten und stetig die Gewalt an ihr zunahm.

Jasmin Schreiber macht das wirklich ganz großartig. Sie entwirft eine Kollage aus verschiedenen Blickwinkeln und fügt außerdem noch Medienberichte, Kinderzeichnungen und (und das ist der Knaller) Alternativkapitel ein, in welchen sie aufzeigt, wie empathisches Nachfragen Betroffenen helfen könnte sich zu öffnen. Diese Alternativkapitel würde ich als Einblicke in alternative Paralleluniversen interpretieren. Liv ist nämlich Astrophysikerin und gleich zu Beginn erklärt sie Maja die Theorie zu unendlichen Paralleluniversen. In mindestens einem dieser Universen muss Emma noch am Leben sein, auch wenn sie es in unserem nicht mehr ist. So sind diese Kapitel auch im Druckdesign gezielt umgekehrt dargestellt. Das Papier ist schwarz, die Schrift weiß. Hier wird phantasiert, wie es anders hätte laufen können. Die fiktiven Medienberichte hingegen bieten die Faktengrundlage zum Thema Femizide und häusliche Gewalt. Durch diesen Mix aus Fakten und Fiktion des Romans im Sinne der betroffenen Figuren erstellt Schreiber ein umfassendes Bild zur Aufklärung zum Thema. Dies wirkt fast nie künstlich, sondern stets homogen eingefügt in die Geschichte. Nur an ein, zwei Stellen hatte ich das Gefühl, die Gedanken der Protagonisten sollen uns Leser:innen nun vorsätzlich aufklären. Das hat mich aber nicht weiter gestört, kommt es doch auf die Gesamtaussage an. Nämlich, dass man als Frau Glück haben muss, um einen Mann an der eigenen Seite zu wissen, der weder körperlich übergriffig wird noch psychisch in einer Form die Frau unterdrückt, anzweifelt, nicht ernst nimmt, klein macht. Es wird klar gemacht, dass die geschlagenen und ermordeten Frauen, nie selbst schuld sind an dem, was ihnen angetan wird. Und auch die Frage „Warum geht sie nicht einfach?“ ist eben nicht einfach zu beantworten, weil es immer ein Geflecht aus verschiedenen Faktoren gibt, das die Frauen in Geiselhaft nimmt, da statt von staatlicher Seite die Täter, die bereits auffällig geworden sind, eingeschränkt werden, sondern immer die Frauen es sind, die Frauenhäuser aufsuchen sollen, ihr Leben selbst schützen sollen. Schreiber zeigt die vielen Fehlstellen auf und nennt gleichzeitig dringend notwendige Veränderungen. Sie prangert gesellschaftliche Missstände an und gleichzeitig schafft sie es ihren Figuren psychologisch unglaublich nah zu sein. Jede Figur hat ihre eigenen Facetten und ihre eigene Sprache. Jede geht anders mit dem Undenkbaren um. Und des Weiteren spart die Autorin auch nicht das eigene Fach, die Kultur, aus, um aufzuzeigen, wo Dinge falsch laufen. Thriller, in denen ohne Unterlass Frauen die Opfer sind, ermordet und vergewaltigt werden, ohne dass es wichtig für die Geschichte wäre, einfach weil sie sich als Opfer anbieten. So schreibt sie sehr richtig:

„Wie oft ist Liv schon aufgefallen, dass es für die Handlung keinen Unterschied gemacht hat, dass die Misshandlung oft einfach nur als Schocker oder als verdichtendes Hintergrundrauschen dient, dass sie nur vorkommt, weil es dramaturgisch bequem ist, weil man gelernt hat, dass Frauenkörper eben zur Verfügung stehen - für die Entwicklung des männlichen Protagonisten, für seine Katharsis, zum Draufschlagen, zum Vergewaltigen, zum Töten und als Aufhänger für eine Geschichte, die gar nicht wirklich um die Frau geht.“

Und Schreiber macht es besser. Hier kommt nicht ein einziges Mal der Täter zu Wort. Hier kommen Männer zu Wort, ja, aber nicht der Täter. Der bekommt kein Rampenlicht. Nur die Betroffene und ihre Hinterbliebenen stehen im Fokus. Zu oft geht es um die Täter.

Ich könnte jetzt noch sehr lange weiterschreiben und benennen, was mir an diesem Roman so gut gefallen hat. Kurz gesagt: Er ist sehr gut geschrieben, er legt den Finger in die Wunde, er ist einfach wichtig! Eine klare Leseempfehlung für ALLE, denn Wegsehen sollte nicht mehr an der Tagesordnung sein.

4,5/5 Sterne