Sensibler, herzzerreißender Roman über einen viel zu alltäglichen Femizid

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nataliegoodman Avatar

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Mit Feingefühl und Menschlichkeit erzählt Jasmin Schreiber in "Da, wo ich dich sehen kann" von den Menschen, die nach dem Femizid an Emma zurückbleiben und mit dem Unverständlichen versuchen zu leben. Im Mittelpunkt stehen Emmas kleine Tochter Maya, ihre beste Freundin Liv und ihre Eltern Brigitte und Per, die alle auf ganz unterschiedliche Weise mit ihrem Tod zu kämpfen haben.

Extrem gut fand ich, dass die konkrete Tat nicht im Detail nacherzählt wird und auch der Täter, Emmas Mann Frank, so gut wie keinen Raum bekommt. Er wird ab und zu erwähnt, wenn es für die Handlung relevant ist, aber sonst spielen er, seine Gefühle oder Motive keine Rolle. Sowohl in der medialen Berichterstattung zu Femiziden als auch in Büchern, Filmen etc. ist das zu oft anders. Die Taten werden als "Familiendrama" bezeichnet, Täter erhalten mehr Aufmerksamkeit als ihre Opfer und zu oft werden gerade die Täter betont menschlich präsentiert, als wenn es irgendwelche Gründe gäbe, einen Mord zu relativieren. Das passiert hier überhaupt nicht. Die Autorin gibt den gesamten Raum den Menschen in Emmas Leben, die ihr wohlgesonnen waren und die nun mit dem Verlust und den damit verbundenen komplexen Gefühlen weiterleben müssen.

In einigen Rückblenden erleben wir zudem Emma. Auch dort kommt der Täter nur soweit nötig vor. Gleichzeitig gelingt es der Autorin aber, ein erschreckend genaues Bild einer toxischen Beziehung zu zeichnen, von dem großen Altersunterschied über Gaslighting und Isolation, bis die Gewalt immer weiter eskaliert und ihr Mann Emma ermordet. Das fühlt sich alles erschreckend lebensnah an, weil es leider Realität ist. Wie gut, dass Jasmin Schreiber so ein wichtiges und aktuelles Thema schriftstellerisch so hervorragend aufbereitet hat.

Der Roman ist sehr durchdacht gestaltet. Jedes Kapitel leitet neben dem Namen der Person auch eine Illustration einer Sternenkonstellation ein. Zudem gibt es immer mal wieder Zeichnungen von Maya sowie total herzzerbrechend drei Einschübe, in denen Per, Brigitte und Liv eine alternative Wirklichkeit vorstellen, in der sie zu Emma durchgedrungen sind und ihr helfen konnten. Diese Seiten sind in Schwarz mit weißem Text gestaltet und reißen optisch aus der erzählten Realität heraus. Das passt auch perfekt zu dem Motiv der parallelen Welten, das immer wieder aufgegriffen wird.

Ich habe den Fehler gemacht, das Buch zum Teil im Zug zu lesen. Aber na ja, öffentlich Heulen beim Lesen ist auch mal eine besondere Erfahrung. Wer sich für eine menschliche, feministische, empathische, nicht-voyeuristische Geschichte über die erschreckend alltägliche Gewalt an Frauen und deren Folgen interessiert, sollte "Da, wo ich dich sehen kann" unbedingt lesen.