Stimmen nach der Stille

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alocasia Avatar

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Jasmin Schreiber widmet sich in ihrem neuen Roman „Da, wo ich dich sehen kann“ einem Thema von bedrückender Aktualität: dem Femizid. Statt eine vermeintliche „Beziehungstat“ oder „Familientragödie“ zu erzählen, wie es in Medienberichten oft verharmlosend heißt, benennt sie das Verbrechen klar – als das, was es ist: die Ermordung einer Frau, weil sie eine Frau ist.
Im Zentrum steht Emma, die von ihrem Mann getötet wird. Doch Schreiber wählt keinen klassischen Erzählansatz. Stattdessen entfaltet sie die Geschichte aus sehr vielen Perspektiven. Diese multiperspektivische Struktur macht das Buch zu einem Mosaik aus Stimmen: die kleine Tochter, die beste Freundin, Eltern, das Opfer, sogar der Hund erhält eine eigene Stimme. Jede dieser Perspektiven beleuchtet einen anderen Aspekt des Geschehens, der Trauer und der Schuld.

Diese Vielfalt ist zugleich Stärke und Schwäche des Romans. Auf der einen Seite ermöglicht sie einen beeindruckend vielschichtigen Blick auf das Geschehen: Wir erleben, wie unterschiedlich die Menschen mit Emmas Tod umgehen, wie sie Schuldgefühle entwickeln oder versuchen, das Unbegreifliche zu rationalisieren. Auf der anderen Seite ist der Roman stellenweise überfrachtet, es sind zu viele Abzweigungen, die der emotionalen Wucht manchmal im Weg stehen. Statt zerstörerischer Trauer bleibt beim Lesen gelegentlich eine gewisse Distanz.

Besonders gelungen ist Schreibers Einsatz unterschiedlicher Textformen. Zwischen die Erzählstimmen mischen sich fiktive Zeitungsartikel, Notrufprotokolle und andere Dokumente, die nicht nur Authentizität erzeugen, sondern auch zeigen, wie Femizide medial verzerrt oder verharmlost dargestellt werden. Dadurch entsteht ein vielschichtiges literarisches Dossier über Gewalt gegen Frauen und über die Nachwirkungen solcher Taten.

Wie schon in früheren Werken verknüpft Schreiber auch hier ihre biologische und naturwissenschaftliche Perspektive mit der Erzählung. Diesmal spielt die Astrophysik eine zentrale Rolle. Nicht immer wirkt diese Verbindung ganz stimmig, manchmal etwas überladen, doch häufig gelingt Schreiber eine poetische Balance zwischen wissenschaftlicher Metapher und emotionaler Tiefe.

Trotz kleiner Schwächen bleibt „Da, wo ich dich sehen kann“ ein starkes, mutiges Buch, das literarisch und gesellschaftlich Relevantes leistet. Es bricht das Schweigen über Femizide, ohne voyeuristisch zu werden, und zeigt, wie vielschichtig das Leid der Zurückgebliebenen ist.
Fazit:

Ein vielstimmiger, bewegender Roman über Gewalt, Trauer und Erinnerung. Stellenweise überfrachtet, aber von großer erzählerischer und moralischer Kraft.
Leseempfehlung: Ja, unbedingt.