wichtiges thema, stilistisch bemerkenswert umgesetzt

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jerichothoem Avatar

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Das Thema Femizide, dem Jasmin Schreiber sich hier widmet, ist ein wichtiges und sowohl emotionales, als auch komplexes. Die Umsetzung im Buch kommt bei mir widersprüchlich an. Da sind große Sensibilität genauso wie plakative Aussagen, die zu schwarz-weiß wirken und obwohl mir das Buch insgesamt gut gefallen hat, hat mich letzteres auch nachhaltig gestört.

Wir hören aus den Erzählperspektiven der Hinterbliebenen, von den Eltern, der besten Freundin und der Tochter der getöteten Emma. Diese sich abwechselnden Perspektiven führen bei mir zu einem Kaleidoskop-artigen Lesegefühl, nicht nur ergänzen sich die Perspektiven, sie verschieben auch immer wieder bereits Erzähltes in seiner Interpretation und fassen es neu. Dieser Stil wird gut von „was wäre wenn“ Kapiteln ergänzt. Das hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ebenfalls mit durch die vielen Perspektivwechsel bedingt liest sich das Buch eher szenenhaft, wodurch die Momente in denen wir tief eintauchen und emotional sehr berührt werden mehr für sich stehen und wir beim Lesen Atempausen angeboten bekommen. Dazu passend ist die Erzählstimme eher distanziert und bietet über die verschiedenen Perspektiven hinweg eine Konstanz, auf die wir uns beim Lesen verlassen dürfen. Ebenso distanziert kommen Einschübe wie Obduktionsprotokoll und Gerichtsbeschlüsse rüber, wobei gerade dieses realitätsnahe Erzählen meiner Meinung nach die emotionale Wucht des Buches steigert. Insbesondere im Kontrast zwischen dieser amtlichen Sprache und den eindrücklichen Beschreibungen aus der Perspektive der Tochter, Maja.

Maja war der Charakter, der mir persönlich am Meisten gegeben hat und den ich auch am besten geschrieben fand. Es steckt meiner Meinung nach viel Sensibilität und Feingefühl hinter den Maja-Kapiteln. Aber auch die anderen Charaktere waren für mich greifbar und aussagestark. In der Auswahl der Charaktere (und Erzählperspektiven) liegt der Fokus ganz klar auf dem Opfer des Femizid und seinen nahen Angehörigen. Es geht nicht darum, den Täter zu verstehen oder zu entschuldigen, im Gegenteil, die Charaktere müssen mit ihren eigenen Schuldgefühlen umgehen lernen. Insgesamt reflektieren und äußern sich die Charaktere immer wieder rund um gesellschaftliche Themen zu Femiziden, zb true crime podcasts. Das sind zum einen sehr starke Momente im Buch, diese geraten zum anderen aber auch gelegentlich zu „einfach“ und schwarz-weiß und hätten von einer sorgfältigeren Ausarbeitung profitiert. An manchen Stellen wäre weniger wohl mehr gewesen, so spielt zum Beispiel die Mutter der besten Freundin des Opfers nach einer sehr geladenen Szene keine weitere Rolle, ob es das gebraucht hat finde ich fragwürdig.

Dies ist auch meine Kritik zum Ende des Buches, das sich etwas übereilt anfühlt. Es fehlt dann bei ein paar Themen für mich die Tiefe, um es gut zu dem hoffnungsvollen Abschluss zu bringen, den die Autorin gewählt hat.

„Da, wo ich dich sehen kann“ war für mich ein stilistisch sehr gut ausgearbeitetes Buch, dessen Lektüre mich bewegt hat, dessen Mängel meine Leseerfahrung aber auch deutlich beeinflusst haben.