Anja im Arrest

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petris Avatar

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Anja war auf einer nichtangemeldeten Demonstration (das sind sie alle, denn Demonstrationen der Opposition sind ja verboten), dabei wird sie festgenommen (wie viele andere auch). Nach einem Schnellverfahren, in dem ihr vorgeworfen wird, die Demo organisiert zu haben, wird sie für 10 Tage in den Arrest verfrachtet.
Anja nimmt es gefasst, sieht es als eine Anekdote, die sie später amüsiert erzählen wird. Vieles ist auch tatsächlich weniger schlimm als erwartet. Es gibt sogar auch freundliche Justizbeamten, das Essen ist besser als erwartet, Gewalt oder gar Folter gibt es nicht.
Und dennoch ist der immer gleiche, langweilige und untätige Arrestalltag belastend. Selbst das Lesen will bei dem ewig tönenden Radio nicht gelingen. Die fünf anderen Frauen sind ein Querschnitt durch Schicksale russischer Frauen, Maja, das Escortgirl, das sitzt, weil sie beim Fahren ohne Führerschein erwischt wurde, Irka, die Alkoholikerin und abhängig von Medikamenten ist, Natascha, die Diebin, die schon im Arbeitslager war,…
Zäh und langweilig vergehen die Tage. Die Frauen unterhalten sich, man erfährt mehr aus ihren Leben, sie lassen sich Spiele einfallen, streiten, warten auf das Essen,… Nach und nach wird eine nach der anderen entlassen. Anja bleibt die letzten Tage allein. Schon davor hat sie Alpträume und Wahnvorstellungen entwickelt. Kommen diese vom Arrest? Ist an ihrer Erklärung etwas dran?
Mir gefiel der Roman sehr, er zeigt eine Seite Russlands, die uns wohl bekannt ist, aber die wir hier von innen kennenlernen. Es sind starke, kämpferische Frauen, die es oft schwer haben mit dem Land und vor allem seinen Männern. Die Autorin (Pressesprecherin von Nawalny) saß selber schon im Arrest und weiß nur zu genau, wovon sie spricht. Die Struktur, in der Tag für Tag des Arrestes erzählt wird, mit seinen immer gleichen Abläufen, dazwischen Gespräche der Frauen, Anjas Erinnerungen an Kindheit und Jugend, gefiel mir sehr.
Allerdings entwickelt der Roman gegen Ende ziemliche Längen, vor allem als alle anderen entlassen sind und nur noch Anja mit ihren Gedanken, dem langweiligen Arrestalltag und ihren Ideen zu ihren Wahnvorstellungen übrig ist. Das war mir etwas zu ausufernd, drehte sich ein wenig im Kreis, hätte für meinen Geschmack etwas kürzer gefasst sein können.
Dennoch ein spannender, lesenswerter, gut erzählter Roman mit einem ungewöhnlichen Setting und interessanten Themen!