Cell Block Tango

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
martinabade Avatar

Von

Kennen Sie das Musical „Chicago“? Bestimmt. Spätestens seit der 2002 Neuverfilmung mit Catherine Zeta Jones. The Cell Block Tango. Der Song, in dem die sechs Verbrecherinnen sich vorstellen und ihre jeweiligen Untaten beichten? In so eine Situation führt uns der Roman „Dafuq“ von Kira Jarmysch. „Dafuq“ ist die Gangsta slangartig verkürzte Form von Kurzform what, why oder where the fuck. Die Emotion dahinter kann sich jeder selbst denken.

So wie in der Zelle in Chicago beschreibt Kira Jarmysch den Alltag in einer russischen, einer Moskauer Gefängniszelle. Es ist ihr Romandebut, eigentlich ist Jarmysch seit 2014 bekannt als Sprecherin des Oppositionellen Aleksej Nawalny. Auch sie wurde bereits verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Ohne es wirklich zu wissen, könnten wir also biographische Verwandtschaften zwischen der Autorin und ihrer Protagonistin vermuten.

Anja Romanova ist eine 28-jährige Studentin, die bei einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen und prompt zu zehn Tagen Arrest verurteilt wird. Nicht Gefängnis, nicht Lager – Arrest. Sie findet sich in einer Sechs-Frau-Zelle wieder, drei Doppelstockbetten, in und auf denen sich das bunte Kaleidoskop der Moskauer Gesellschaft eingefunden hat – ein russischer Cell Block Tango beginnt. Zwischen unruhigen Nächten, herausfordernden Mahlzeiten, verabreicht von einem ebenso herausfordernden Küchenteam, Alpträumen besetzt mit Hexen und Messern, Handyausgabezeiten und den so genannten „Hofgängen“ lernt das lesende Publikum die Zellenbesatzung kennen. Maja, Irka, Katja, Natascha und Diana. Die eine komplett irr und schwer tablettensüchtig, die andere aus der Moskauer High Society mit mehr künstlichen als natürlichen Körperteilen. Dazwischen Anja, der als einzige ein „politisches Delikt“ auf dem Zettel hat. Harter Tobak sind die anderen fünf Frauen für sie. Fremd ist sie für ihre Mithäftlinge. Eine Demonstration, ungenehmigt und dafür zehn Tage Arrest? Das geht Katja nicht in den Kopf.

Sprachlich ist „Dafuq“ kein Meister(innen)werk, aber das lag wohl auch nicht im Fokus der Autorin. Nah an den Charakteren modelliert sie das Idiom passend zur sozialen Herkunft der Figuren. Das ist sehr, sehr unterhaltsam. Und bedrohlich. Denn das Bild, das sich auf diesem Wege von der russischen Gegenwartsgesellschaft formt, lässt den oder die demokratisch gebildeten und erzogenen Mitteleuropäer:in erschauern. Druck, Gängelei, Korruption, gelenkte Staatsmedien, Willkür, und Gewalt kurz, die ganze „Putinokratie“, schlicht nicht vorstellbar in unserem Land.

In den zehn Tagen „auf Zelle“ hat Anja viel Zeit zum Nachdenken, Zeit, sich zu erinnern. Coming of Age eben. An Kindheit und Jugend. An das Dorf, in dem sie groß geworden ist, an die Mutter. An die erste Verliebtheit, an die Zeit an der Uni, aber auch an das Ritzen an Handgelenken und Armen mit den Rasierklingen, um sich zu spüren. An wilde Partys und ihre langsame Politisierung (Pardon, diese Alliteration musste einfach sein.) Das ist manchmal etwas langwierig, erweist sich aber mehr und mehr als aufschlussreich und spannend. Aber, für mich als Leserin wäre dieser Text alles nichts ohne Maja, Irka, Katja, Natascha und Diana.