Eine Stimme der russischen Opposition

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imperatorwilma Avatar

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Nach einer Demonstration gegen die Korruption in den russischen Behörden findet sich die achtundzwanzigjährige Moskauerin Anja auf einer Polizeiwache wieder. Zu ihrer Überraschung wird sie am Folgetag zu 10 Tagen Haft verurteilt, scheinbar eine Willkommene Auszeit, um sich Gedanklich mit ihrem bisherigen Leben auseinander zu setzen, dass nicht unbedingt in geplanten Bahnen verlaufen ist. Doch in der Haftanstalt scheint sie nicht unbedingt zur Ruhe kommen zu können, ihre fünf Mitbewohnerinnen, die nicht unterschiedlicher hätten sein können, lassen sie mehr und mehr die gesellschaftliche Lage Russlands reflektieren.

Zugegeben, ich hatte großer Erwartungen an das Buch. Ich erhoffte und erwartete mir eine Kritik an der gesellschaftlichen und politischen Stagnation in Russland seitens einer Oppositionsführerin, als die man die Autorin schon fast bezeichnen könnte, in der Art, wie es "Der ehemalige Sohn" von Sasha Filipenko für Belarus ist. Allerdings muss ich sagen, dass ich in weiten Teilen enttäuscht wurde. Ohne Frage, der Schreibstil konnte mich recht rasch überzeugen. Geradlinig und intensiv werden die Leser:innen an die Geschichte herangeführt. Sprachlich ist das Buch wirklich prickelnd und gekonnt ausgearbeitet. Allerdings stellte mich die Handlung kaum zufrieden. Anfangs entwickelte sie sich noch in die Richtung, in die ich mir die Geschichte erhofft hatte, allerdings flachte dies immer mehr ab, und es ging viel mehr um Anjas Erfahrungen des Lebens als Inhaftierte, ständig unterbrochen von langen Rückblenden. Diese Rückblenden aus der Jugend, Studienzeit und dem ersten Berufserfahrungen Anjas waren zwar aus gesellschaftskritischer Sicht recht interessant, trugen aber keinen wesentlichen Beitrag zur Handlung bei, und entwickelten sich recht rasch zu einem Ballast, der den Lesefluss beeinträchtigte. Die Charakterzeichnungen der Autorin empfinde ich wiederum als sehr gut gelungen. Anja ist facettenreich und ausführlich gestaltet, bietet den Leser:innen und ihren Mitgefangenen, aber auch sich selbst, immer wieder neue Seiten ihrer selbst. Und trotzdem bleibt sie ein wenig unnahbar und ungreifbar, entwickelte sich für mich also nicht unbedingt zu einer Sympathieträgerin. Hinsichtlich der Handlung hat ein Aspekt bei mit Fragen aufgeworfen, die nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnte. Ich spreche von den übernatürlichen Momenten, die immer wieder in der Geschichte auftraten. Diese waren für die Handlung weitestgehend überflüssig, außer, um noch deutlicher Anjas geistige Entwicklung während der Haft zu verdeutlichen, was meiner Meinung nach überflüssig ist. Auch konnte mich die Auflösung bzw. Erklärung dieser übernatürlichen Aspekte in der Geschichte nicht zu hundert Prozent überzeugen, auch wenn diese Stellen in der Geschichte immer recht spannend waren und vor allem atmosphärisch waren, und den Spannungsbogen in diesem Moment sehr stark gepusht haben.

Am Ende des Tages konnte mich die Geschichte aber nur teilweise überzeugen, wobei man sagen muss, das die für mich positiven Dinge der Geschichte außerordentlich Gut gelungen sind.