Frauenarrest in Moskau – das Essen ist gut

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biancaneve_66 Avatar

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Die achtundzwanzigjährige Anja landet wegen einer Ordnungswidrigkeit im Moskauer Gefängnis. Sie hatte an einer Demonstration gegen die Korruption der Regierung teilgenommen. Zusammen mit fünf anderen Frauen soll sie zehn Tage im Gefängnis verbringen. Die Frauen entstammen verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und spiegeln Ausschnitte des heutigen russischen Lebens wider.
Das Cover ist recht düster in Dunkelblau, Rot und Lila gehalten. Erst auf den zweiten Blick erkennt man das Portrait einer Frau mit Zigarette. Allein der Titel sticht in roten Lettern auffällig hervor. Der massive Kartondeckel überrascht, liegt aber sehr angenehm in der Hand des Lesers. Die Kapitel behandeln jeweils einen Tag im Gefängnis, der Schreibstil ist einfach und nüchtern.
Die Protagonistin Anja beschreibt nicht nur den eintönigen Alltag im Gefängnis und die Mitinsassen ihrer Arrestzelle, sondern wendet ihre Gedanken immer wieder ihrer eigenen Vergangenheit zu. Sie überdenkt ihr Privatleben sowie ihre beruflichen Erfahrungen, geht dabei aber doch nie richtig in die Tiefe. Auch die Kritik an der russischen Gesellschaft und Politik bleibt trotz der Nähe der Autorin zu Nawalny eher blass.
Vor allem an den Kapitelenden wird Anja von übernatürlichen Phänomenen überrascht. Dieses Abschweifen in die Fantasie mag manchem Leser als sehr passend erscheinen, ich persönlich konnte damit nicht sehr viel anfangen. Mit den Auswirkungen des eintönigen Lebens im Arrest auf Anjas geistigen Zustand möchte ich diese Erlebnisse nicht in Zusammenhang bringen, da sie bereits am ersten Abend auftreten.
Anja ist keine richtige Sympathieträgerin. Die Rückblenden gestalten sich leider oft als langatmig und wenig tiefgründig. Auch die Charaktere der anderen fünf Frauen sind eher nur angedeutet. Sicher lernt man Menschen nach nur wenigen gemeinsamen Tagen nicht vollkommen kennen, dennoch hätte man mehr erwartet, gerade in Hinblick auf die verschiedenen Milieus, aus denen die Frauen stammen. Die Parallelen und Kritik die derzeitige gesellschaftliche und politische Situation in Russland betreffend wären ausbaufähig gewesen.
Kira Jarmysch wurde 2021 selbst wegen Aufrufs zu Demonstrationen in Haft. Dennoch – eigene Erfahrungen aus dem Arrest kann sie nicht verarbeitet haben, stammt das russische Original des Romans doch aus dem Jahr 2020. Mich hat das Buch nicht vollkommen überzeugen können. Eine Leseempfehlung kann ich dennoch aussprechen.