Was für eine Geschichte!

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fraedherike Avatar

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„Hätte man Anja gefragt, welcher Tag im Gefängnis der schwierigste sei, sie hätte gesagt: der erste.“ (S. 7)

[TW: selbstverletzendes Verhalten, Gewaltdarstellungen, psychische Erkrankung]
Anja versteht nicht, wie das passieren konnte. Eben noch war sie auf einer Demonstration gegen die zunehmende Korruption der Regierung, nun sitzt sie in der Arrestanstalt und soll zehn Tage lang Buße tun. Wobei, eigentlich kommt die Auszeit auch ganz gelegen, um über ihr Leben nachzudenken, über ihre nicht ganz so glanzvolle Vergangenheit – und das, was noch kommen soll. Aber viel Ruhe bleibt ihr nicht, denn sie ist in ihrer Arrestzelle nicht alleine. Gemeinsam mit fünf anderen, höchst unterschiedlichen jungen Frauen schlägt sie die Zeit tot: Auf der Pritsche neben ihr schläft das Möchtegern-Model Maja, das sich ihre Schönheitsoperationen durch Escortservice finanziert, und wegen Fahrens ohne gültigen Führerschein hier ist, wohingegen die stotternder Natascha bereits im Straflager einsaß, die aufbrausende Irka die Alimente für ihr Kind nicht zahlt. Diana ist ebenfalls ohne Führerschein gefahren, und Katja hat einen über den Durst getrunken – eigentlich alle also wirklich harmlos, belangt wegen Ordnungswidrigkeiten und Nachlässigkeit. Über die gemeinsam verbrachte Zeit öffnen sie sich einander, erzählen mal mehr, mal weniger realistische Geschichten aus ihrem Leben, träumen von der Freiheit, vom Reisen und besserem Essen. Doch so unterschiedlich sie auch sind, verbindet sie doch etwas, das Anja zunehmend irritiert und jeden Bezug zu Realität infrage stellen lässt.

In ihrem Debütroman „Dafuq“ (OT: The Curious Events in Woman's Cell #3, aus dem Russischen von Olaf Kühl) zeichnet Kira Jarmysch, russische Journalistin und Sprecherin des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, ein umfassendes, bezeichnendes Bild der heutigen russischen Gesellschaft. Anhand der Erzählungen und der Charakterzüge der Arrestantinnen, besonders der Protagonistin Anja, bildet sie die Gegensätze zwischen Armut und Reichtum ab, die Willkür und das repressive, konservative Verhalten staatstragender Personen, den Einfluss von Korruption auf Recht und Ordnung sowie den Wunsch um Freiheit, um eine sichere Zukunft. Mit roher und erdender, teils aggressiver Sprache erzeugt sie ein lebendiges Bild des Lebens im Arrest, beschreibt das enge Beisammensein, das einem Kammerspiel gleichkommt, die kulinarischen Highlights und die Wechselhaftigkeit des Wachpersonals, die das Wohlergehen der Frauen immens beeinflusst. Besonders die kurzen Abschnitte, in denen Anjas Gedanken im Hier und Jetzt sind, in denen sie sich mit ihren neuen „Freundinnen“ austauscht, sie gemeinsam Tee kochen oder über Erlebtes lachen, sind vom Timing und der Dynamik her grandios, voller Situationskomik und absurdem Staunen. Diese Szenen dienen quasi als Break zwischen Anjas teils langatmigen Rückblicken, in denen sie ihre Vergangenheit und ihr Wesen, ihr emotionales Wachstum und ihr ambivalentes Verhalten offenbart. Es kommt einer Psychoanalyse gleich, wie Jarmysch ihre Protagonistin nach und nach auseinandernimmt, ihre emotionale Entwicklung von Resignation über so etwas wie Freude bis hin zum psychischen Kollaps, schizophrenen Wahnvorstellungen begleitet. Und das nicht gerade subtil, beschreibt sie unter anderem detailliert, wie Anja sich selbst verletzt, über das Sterben nachdenkt, dass es mich kalt schüttelte und ich das Buch weglegen musste. So viel zu lebendigem Schreiben, das kann die Autorin allemal!

Insgesamt hat mir „Dafuq“ trotz einiger Längen, für mein Verständnis auch zwei, drei umständlichen Übersetzungen sehr gut gefallen; Jarmysch schreibt frech, nimmt kein Blatt vor den Mund und versteht es, aktuelle politische und gesellschaftliche Dispute in eine unterhaltsame fiktionale, wenn auch realitätsnahe Geschichte zu verknüpfen. Mehr davon!

Herzlichen Dank an den @rowohltverlag sowie @vorablesen für das Rezensionsexemplar!