Zehn Tage unfreiwillige Auszeit

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Die achtundzwanzigjährige Anja Romanowa landet nach einer Demo in Polizeigewahrsam und wird recht willkürlich zu zehn Tagen Arrest verurteilt. Was am Anfang noch unwirklich und wie eine lustige Anekdote für später wirkt, wird im Laufe der zehn Tage immer unerträglicher und bizarrer zum wortwörtlichen DAFUQ. Aber wird der Roman von Kira Jarmysch diesem Begriff auch gerecht?

Jarmysch zehrt für ihren Debütroman auf jeden Fall von ihren eigenen Erfahrungen, denn die Pressesprecherin des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny saß selber schon mehrfach in Russland im Arrest. Das macht DAFUQ und Anjas Erlebnisse nur realistischer und glaubhafter, und durch die Bank waren die Charaktere an sich die Stärke dieses Buches: Sei es beispielsweise Anja selbst, die sich in einem großen Irrtum gefangen sieht, der junge Polizist, der selber schon längst das System anzweifelt oder Natascha, die das Straflager kennt und den Arrest daher mit ganz anderen Augen wahrnimmt – jeder wirkt real, hat Ecken, Kanten und Tiefe.

Nach einem recht schnellen Vorgeplänkel auf der Polizeiwache und im Gericht landet man gemeinsam mit Anja in der Arrestzelle, wo sechs sehr unterschiedliche Frauen und Weltanschauungen aufeinandertreffen. Teils werden Klischees bedient, teils diese auf den Kopf gestellt und immer schwingt ein leichter politischer Unterton mit. Als Leser ist man dabei in Anjas Kopf, sieht die Arresttage sowie Rückblicke zu Momenten, die wie Zahnräder ineinandergreifen und Anja unweigerlich durch ihr Zusammenspiel überhaupt erst in diese Situation gebracht haben.

„Du denkst, Arrest, das ist was Schreckliches“, versicherte Anja. „In Wirklichkeit tust du hier nichts als schlafen und lesen. Also mach dir keine Sorgen um mich, es sind ja nur zehn Tage.“ | S. 230-231

Die Zelle ist klein, die Tage eintönig und langweilig dank immer gleicher Abläufe. Zehn Tage, das wirkt anfangs weder auf Anja noch den Leser als eine lange Zeitspanne, aber die Langeweile zehrt. Was kann also in dieser Zeit überhaupt passieren, außer das Anja sich jede Menge Gedanken macht? Der russische sowie englische Titel von DAFUQ lautet „Die unglaublichen Vorfälle in der Frauenzelle Nr. 3“, und irgendwie klingt das viel aufregender und vielversprechender als was dann tatsächlich in dieser Zelle geschieht. Die Unfreiheit, Ungerechtigkeiten und Willkür der Situation nagen zwar an Anja, die sich an andere, ähnliche Momente und Begebenheiten sowie ihren Werdegang erinnert und an allem halb zu zerbrechen droht. Aber irgendwie wirkt das nicht so richtig, da eigentlich nichts Schreckliches geschieht? Ja, Anja ist zehn Tage im Arrest, aber dieser wirkt neunzig Prozent der Zeit wie ein Aufenthalt im Schullandheim.

Um einfach mal einen Eindruck vom Arrest und dem gerichtlichen Ablauf hierzu in Russland zu erhalten, ist DAFUQ interessant und lesenswert. Unterhalten habe ich mich von Anja und ihrer Geschichte nur eigentlich kaum gefühlt, und irgendwie hat es mich fast am meisten gestört, das sie noch nicht mal wirklich hinter ihrem demonstrieren -und somit dem Grund für ihren Arrest!- steht. Es gibt zudem noch ein Handlungselement, durch den Anjas mentaler Zustand fassbar gemacht werden soll. Mich hat dieses Element allerdings immer irritiert, wenn es auftauchte, da es extrem aus der ansonsten sehr realistischen Geschichte rausfällt. Auf den letzten Seiten kommt es im Rahmen dieses Elements zum Bild einer reißenden Kette, die gut auch den Geduldsfaden des Lesers symbolisieren könnte – nach über vierhundert Seiten ist man irgendwo froh Anja und die Zelle 3 einfach hinter sich zu lassen.