Die Nanny als moderner Sklave?

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Myriam und Paul sind ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern, die in einer schönen, wenn auch kleinen Altbauwohnung im 10.Arrondissement wohnen. Paul versucht als Musikproduzent Fuß zu fassen, während Myriam sich zunächst in der traditionellen, von Paul so gewünschten Rolle als Hausfrau und Mutter wiederfindet. Jedoch ist das Leben in der französischen Metropole teuer und Pauls Einkommen reicht für keine großen Sprünge. Zudem sehnt sich Myriam, die eigentlich Juristin ist, nach einer Tätigkeit, bei der ihre geistigen Fähigkeiten beansprucht werden. Die Tätigkeit als Vollzeitmutter erfüllt sie nicht und so ist sie mehr als froh, als ihr der ehemalige Kommilitone Pascal einen Job als Anwältin in seiner Kanzlei anbietet. Anscheinend steht eine Teilzeittätigkeit nicht zur Debatte und so beginnen Paul und Myriam die Suche nach einer geeigneten Nanny. Bei einem Casting in ihrer auf Hochglanz gebrachten Wohnung werden sie fündig: Die fünfzigjährige Französin Louise scheint die perfekte Kinderfrau zu sein. Louise fängt ihre Tätigkeit bei den Massés sofort an und zur Begeisterung ihrer Arbeitgeber ist Louise nicht nur eine hingebungsvolle Nanny, sondern auch eine Putzfrau und Küchenfee. Louise wird schnell unersetzlich und Paul vergleicht sie sogar mit Mary Poppins. Bis zu jenem Tag, als die Louise ihre beiden kleinen Schützlinge umbringt..

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, jedoch habe ich es als etwas enttäuschend empfunden, dass man bereits am Anfang des Buches über das Ende informiert wurde: „Adam ist tot. Mila wird ihren Verletzungen erliegen.“ (S.11) Somit ist der Geschichte die eigentliche Spannung schon genommen wurden und ich als Leser habe mich nur gefragt, wie es soweit kommen konnte. Ich hätte es interessanter empfunden, wenn man erst am Ende des Buches über das Drama informiert worden wäre. Eine Supernanny wird zur eiskalten Mörderin. Gibt es ein Ereignis, welches diesen Hass in ihr ausgelöst hat?

Slimanis Erzählstil gefällt mir sehr gut, scheinbar objektiv erzählt der auktoriale Erzähler von den Ereignissen um Louise und ihre Arbeitgeber. Louise ist von dem Ehrgeiz getrieben, alles perfekt machen und sich damit unersetzlich machen zu wollen. Penibel achtet sie auf ihr Aussehen und merkt dabei nicht, dass ihr Make-Up übertrieben ist. Es wirkt wie eine Maske, die sie sich aufmalt. Ihr fehlen die sozialen Fähigkeiten, sich mit Erwachsenen auf einer Ebene zu unterhalten.
„Louise hat sich in eine Ecke des Sofas gesetzt, ihre langen Finger mit den lackierten Nägeln umklammern den Champagnerkelch. Sie ist unsicher wie eine Fremde, wie eine Emigrantin, die die Sprache um sich herum nicht versteht.“ (S.60)

Dabei wird sie auch von ihren Arbeitgebern nicht als Individuum geachtet und anerkannt, sondern erhält den Status eines bloßen Objekts. Paul und Myriam sprechen von ihr in der 3.Person, ungeachtet ihrer Gegenwart:
„Louise stürzt in die Küche und wird von Beifall empfangen, als sie mit ihrem Gericht in den Händen zurückkommt. >>Sie wird rot<<, amüsiert sich Paul mit etwas zu schriller Stimme. Ein paar Minuten lang steht Louise im Zentrum der Aufmerksamkeit. >>Wie hat sie diese Soße gemacht?<< >>Was für eine gute Idee, Ingwer zu benutzen!<< Die Gäste loben sie überschwänglich, und Paul beginnt über sie - >>unsere Nounou<< - zu reden, so wie man über Kinder oder Greise in deren Gegenwart spricht.“ (S.61)

Während Paul und Myriam von dem Wunsch Karriere zu machen getrieben sind, sehen sie ihre allzeit bereite Nanny als selbstverständlich an, ohne über eine Gehaltserhöhung nachzudenken. Dabei ist es eher ungewöhnlich, dass Myriam als Frau aus dem Mahgreb die Chefin einer französischen Nanny ist, denn die meisten Nannys in Frankreich kommen aus Asien oder Afrika. Doch Myriam wollte bewusst keine Frau aus dem Mahgreb, da sie sich von der arabischen Kultur distanziert und in dem Wunsch sich assimilieren zu wollen, ihre eigene Kultur aufgegeben hat. Louises Verhalten, keine abgelaufenen Lebensmittel wegwerfen zu wollen, zeigt, dass sie selbst anscheinend kein Geld hat und deswegen Lebensmittel aufbewahrt. Wieso verstehen ihre Arbeitgeber nicht den Wink mit dem Zaunpfahl?

Das Buch ist erschreckend realitätsnah. In Frankreich ist es üblich, eine Nanny zu haben. Sie sind wie eine unsichtbare und meist hoffnungslos unterbezahlte Armee, die gleichzeitig den Kindern Liebe und Fürsorge in der Abwesenheit ihrer karriereorientierten Eltern bieten sollen. Doch wie soll dies möglich sein, wenn sie am Existenzminimum leben und oft rund um die Uhr zur Verfügung stehen sollen? Und Louise als Französin steht auch noch der Konkurrenz unzähliger Au-Pair-Mädchen sowie Migrantinnen mit Universitätsabschluss gegenüber, die in Frankreich in ihrem eigentlichen Beruf keine Anstellung finden.

Von mir gibt es für dieses grandiose Buch eine klare Leseempfehlung!