Von Wölfen und Menschen

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Von Wölfen und Menschen

Aus Irland kommen neuerdings hervorragende Thriller, z.B. Tana French, In the Woods / Grabesgrün oder Alex Barclay, Darkhouse / Schattenturm, um nur zwei zu nennen. Darling Jim wirkt auf Grund

des Lokalkolorits und vieler Details so authentisch irisch, dass man gar nicht auf die Idee kommt, dass

ein Däne diesen spannenden Thriller geschrieben hat.

Der alte Postbote Desmond im kleinen Ort Malahide entdeckt durch den Briefkastenschlitz die Leiche

von Mrs Walsh, die Polizei findet später auch ihre ermordeten Nichten, die offenbar monatelang von ihrer Tante gefangengehalten und langsam vergiftet worden sind. Spuren im Keller weisen auf

eine(n) weitere(n) Gefangenen hin, der (die) entkommen konnte. Als Desmond von Schuldgefühlen

gequält den Ort für immer verläßt - er hatte niemandem von seinen Beobachtungen erzählt und daher

nichts zur Rettung der Mädchen getan - tritt der junge Niall Cleary seine Nachfolge an. Niall wäre viel

lieber ein berühmter Zeichner von Comics als Postbote, aber sein Leben verändert sich mit einem Schlag, als er in der nicht zustellbaren Post die Sendung mit Fiona Walshs Tagebuch findet. Er verliert

seinen Job und betrachtet es von nun an als seine Aufgabe, den Tod der Walsh-Schwestern aufzuklären. Hier beginnt sein großes Abenteuer, in dessen Verlauf er nicht nur alle Puzzleteilchen

zusammensetzt, sondern selbst auch in große Gefahr gerät.

Im Zentrum des Romans steht neben Mrs Walsh und ihren drei Nichten der herumziehende Märchenerzähler Jim Quick, der mit einem Gehilfen zusammen fünf Grafschaften bereist und bei seinen

Auftritten vor allem die tragische Geschichte des Königs Stiofn und seiner Zwillingssöhne erzählt, von denen einer nach dem Mord an seinem Bruder zum Wolf wird. Wölfe und Wolfslegenden durchziehen

leitmotivisch den gesamten Roman. Der Autor macht die Parallelen zwischen den erzählten Geschichten und dem Leben des Jim Quick sehr deutlich, Der Märchenerzähler sieht umwerfend aus und versprüht einen solchen Charme, dass ihm Mädchen und Frauen jeden Alters sofort verfallen, aber

tatsächlich ist er so gefährlich wie der Wolfsmensch in seiner Geschichte. Auch er steht immer wieder vor der Frage, ob er lieben oder töten soll. Im übrigen kann die Begegnung mit dem Wolf auch

als Metapher für erwachende Sexualität und erste sexuelle Erfahrungen gedeutet werden wie in dem

Lied des französischen Sängers Renaud, “Elle a vu le loup”.

Die Geschichte ist enorm spannend zu lesen, weil der Autor die Erzählperspektive immer wieder wechselt. Zuerst berichtet ein allwissender Erzähler, der dem Leser die Aufklärung der Verbrechen verspricht. Dann wechselt Nialls Perspektive mit der von Fiona und Róisín Marsh ab, die der Autor

in ihren Tagebüchern als Ich-Erzähler zu Wort kommen läßt. Zum Schluß wird Niall sogar noch ein

drittes Tagebuch übergeben, über dessen Inhalt der Leser jedoch nichts mehr erfährt. Das ist auch nicht

nicht erforderlich, denn die wesentlichen Fakten sind zu diesem Zeitpunkt bekannt.

Der Roman enthält viele märchenhafte Elemente, die seinen besonderen Reiz ausmachen, verläßt jedoch nie die Ebene der Realität. Wenn der auktoriale Erzähler also eingangs sagt, dass die Geister

der toten Mädchen nicht ruhen werden, bis die Wahrheit ans Licht kommt, dann bedeutet dies

keineswegs, dass es auf Friedhöfen spukt. Es gibt nichts Übersinnliches, es ist kein Fantasy-Roman.

Fazit: Christian Moerks Thriller ist überaus empfehlenswert, auch wenn die Übersetzung eine Reihe von sprachlichen Unebenheiten enthält, z.B. “der Name meiner Schwestern und mir” (S. 235), das seltsame Adjektiv “nerdig” in “mein besonders nerdiger Kurzwellenverehrer” (S. 280) - nerds sind

Computerfreaks oder einfach Schwachköpfe - oder auch das Wort “Teuflischkeit” auf der Rückseite des Umschlags.