Interessantes aber unvollständiges Buch

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katicey Avatar

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„Das achte Kind“ erzählt die autofiktive Geschichte von Alem Grabovacz. Er beschreibt das ärmliche Leben seiner Mutter Smilja im damaligen Jugoslawien, ihren Weg nach Deutschland und die damit verbundenen Wünsche und Sehnsüchte für ein besseres Leben. Nach der Geburt ihres Sohnes zwingen ihre Lebensumstände als Gastarbeiterin sie, ihren Sohn in eine deutsche Pflegefamilie zu geben. Nur so kann sie seine angemessene Betreuung garantieren und ihn vor seinem zwielichtigen Vater Emir schützen. Was anfangs als vorübergehende Notlösung gedacht war, entwickelt sich zu einem Dauerzustand. Und so begleitet man Alem Grabovacz bei seinem Aufwachsen in einer deutschen Pflegefamilie, dass nur durch die Wochenendbesuche bei seiner Mutter und dem jährlichen Urlaub bei ihrer Familie in Jugoslawien unterbrochen wird. Längst erwachsen begibt sich Alem zuguterletzt auf die Suche nach den Spuren seines leiblichen Vaters.


Alem Grabovacs Kindheit war für unsere Verhältnisse definitiv ungewöhnlich, herausfordernd und schwierig. Er war in gewisser Weise ein Wanderer zwischen zwei Kulturen und Welten, die sich kaum miteinander vereinbaren ließen. Zum einen sein wohlbehütetes Aufwachsen in einer deutschen, kleinbürgerlichen Pflegefamilie – das erst relativ spät getrübt wird durch die rechte Gesinnung des Pflegevaters, die sich u. a. durch die Leugnung des Holocausts manifestiert. Zum anderen das Leben mit seiner Mutter und ihrem gewalttätigen Freund, von der er sich, bedingt durch die wenige gemeinsame Zeit und die so verschiedenen Lebensumstände, immer mehr zu entfremden scheint.

Natürlich ist es traurig, wenn ein Kind nicht bei seinen Eltern aufwächst. Aber vermutlich haben sich ihm durch sein Leben in einer deutschen Pflegefamilie auch Chancen eröffnet, die ihm in einem Leben bei seiner Mutter und ihrem Freund verwehrt geblieben wären. Und diese Chancen hat er auch genutzt, hat in Deutschland und Großbritannien studiert, eine Familie gegründet und arbeitet als freier Autor und Journalist.

Leider ist diese Entwicklung nicht mehr Bestandteil des Buches. Denn das war plötzlich zuende. Für mich blieben viele Fragen offen, ich habe das Buch mit einem sehr unbefriedigenden Gefühl zugeklappt. Ein paar Seiten über den weiteren Weg von Alem Grabovac hätten das Buch hervorragend abgerundet. Oder bin ich die Einzige, die sich am Ende des Buches gefragt hat, was aus ihm geworden ist – privat und beruflich, wie sich sein Verhältnis zu seiner Mutter entwickelt hat, ob er noch Kontakt zu seinen Pflegegeschwistern hat, ob seine Mutter ihren Freund noch geheiratet hat oder welchen Einfluss seine Kindheit auf sein heutiges Leben, auf seine Familie, seine Arbeit hat?


Laut dem Autor handelt es sich bei dem Buch um Autofiktion. Ehrlich gesagt hätte das lieber nicht gewusst. So allerdings habe ich mich unwillkürlich immer wieder gefragt, wie viel von dem, was ich gerade lese, tatsächlich genauso passiert ist. Was wurde fiktional hinzugefügt und wozu? Um einige Sachen abzuschwächen, die Geschichte abzurunden, Geschehnisse plausibler erscheinen zu lassen? Mir persönlich wären eine rein fiktionale Geschichte oder eine Autobiographie lieber gewesen!

Für mich fühlte sich das Buch an wie ein Hybrid zwischen Roman und Sachbuch. Die Themen wie Migration, Gastarbeiterfamilien in Deutschland, Aufwachsen in einer Pflegefamilie oder auch häusliche Gewalt sind wirklich interessant, werden hier aber lediglich angerissen. Offen bleibt, ob der Autor ganz bewusst darauf verzichtet hat, dem Leser ein paar mehr Hintergrundinformationen mit an die Hand zu geben. Es hätte dem Buch auf jedem Fall gutgetan und die gewählte Form des autobiografischen Romans hätte das auch ohne Weiteres zugelassen.

Wer nun dafür aber mehr Tiefgang auf der emotionalen Ebene erwartet, wird ebenfalls enttäuscht. Alem Grabovacz schreibt völlig nüchtern und wertfrei, so distanziert, als würde er das Leben eines anderen dokumentieren. Nun bin ich nicht gerade ein Fan von Gefühlsduselei und Effekthascherei, aber hier wird derart konsequent auf Gefühlsäußerungen, Reflexionen und Wertungen verzichtet, dass ich keinerlei Verbindung zu diesem Buch und seinem Inhalt aufbauen konnte.
Fazit: Ein an sich gutes und interessantes Buch, dem es mir persönlich aber an Tiefgang mangelt.