In welche Richtung würdest Du gehen?

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emma winter Avatar

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Wer eine Chance auf eine der begehrten, prestigeträchtigen und machtversprechenden Ausbildungen im Conseil haben möchte, muss einen Aufsatz schreiben. Es geht um die Frage, in welche Richtung man gehen würde, hätte man denn die Chance dazu. Es gibt nur zwei Wege aus dem Tal, nach Westen in die Vergangenheit oder nach Osten in die Zukunft. Die gleiche Stadt, die gleichen Personen aber jeweils 20 Jahre zeitversetzt und ein Tal reiht sich an das nächste. Niemand weiß, wieviele es sind. Odile ist 16 und bewirbt sich um einen solchen Ausbildungsplatz. Sie ist eine Außenseiterin, ohne Freunde und eigentlich auch ohne wirkliche Ambitionen. Eines Tages entdeckt sie sogenannte Besucher, also Personen aus einem anderen Tal, die jemanden aus ihrer Familie aus der Ferne sehen dürfen. Diese Besuche sind selten und werden unter extrem strengen Auflagen nur gewährt, wenn ein Todesfall bevorsteht. Trotz der Masken, die die Besucher tragen müssen, erkennt Odile die Personen und weiß daher auch, wer sterben wird. Diesen Vorfall nimmt sie in ihren Aufsatz für das Conseil auf und wird zum Auswahlverfahren zugelassen.

Der Autor hat ein Gedankenexperiment geschaffen, das viel Platz für philosophische Fragestellungen läßt. Der Roman ist eine Mischung aus Coming-of-Age, Dystopie und ein bisschen Zeitreise, eingebettet in eine zeitlose Gegenwart ohne Computer und Handy, aber mit Auto, Prügelstrafe und scharf bewachten Grenzen. Die Entwicklung von Odile und ihre zarte Freundschaft gerade mit der Person, die offenbar sterben wird, hat mich sehr berührt. Die Handlung wird konsequent aus der Sicht von Odile erzählt, in einer Sprache, die die Handlung in den Vordergrund rückt. Das Tal und seine "Regierung" nehmen im Laufe der Handlung immer mehr Gestalt an und doch bleiben bis zum Schluss Fragezeichen. Der Autor hat hier eine sehr komplexe und auch durchdachte Gesellschaft erschaffen, die man allerdings so annehmen muss, wie sie geschildert wird. Würde man bestimmte Verhaltensweisen etc. hinterfragen, gibt es Logiklücken. Der zentrale Konflikt: Darf man in die Vergangenheit eingreifen? Ein außergewöhnliches, stellenweise sehr bedrückendes Buch, mit dessen Protagonistin ich zwar mitgefiebert habe, die mir aber nicht so nahe gekommen ist. Dafür wirkte sie auf mich zu distanziert und oft auch passiv. Der Roman wird mich noch einige Zeit gedanklich beschäftigen.