Interessant gemachtes moralphilosophisches Gedankenexperiment

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gaia Avatar

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Mit seinem ersten Roman „Das andere Tal“ entwirft der promovierte Philosoph Howard eine Welt nicht nur mit einem interessanten metaphysischen Grundkonzept sondern auch mit Denkanstößen zu moralphilosophischen Fragen. Das geschieht im Gewand eines zunächst sogar eher wie ein Jugendbuch anmutenden Romans, der sich in der zweiten Hälfte zu einer hoch spannenden Lektüre entwickelt und eine unerwartete Auflösung bietet.

Odile ist gerade sechzehn geworden und lebt auf den ersten Blick das Leben einer durchschnittlichen Jugendlichen, die aber nicht so recht in die Gruppendynamiken der Schule passt. Man merkt schnell, dass die Stadt, in der sie lebt, irgendwie anders ist, als das, was wir von unserer Gegenwart kennen. Die Stadt, die verwendete Technik, die Personen scheinen wie aus der Zeit gefallen. Unbestimmbar. Und mit „der Zeit“ hat es hier auch etwas ganz Besonderes auf sich, denn die Stadt befindet sich in einem Tal und würde man nach Westen reisen, ins nächste Tal, befände sich dort der gleiche Ort aber 20 Jahre in der Vergangenheit. Der nächste Ort im Westen, wieder weitere 20 Jahre (also insgesamt 40 Jahre) in der Vergangenheit. In Richtung Osten würden wir uns in die Zukunft, auch in 20er Schritten, bewegen. Nun steht Odile zwar eigentlich „nur“ vor der Entscheidung, die jede Person zum Abschluss der Schulzeit treffen muss, nämlich welche Ausbildung sie beginnen möchte. Doch ihre Geschichte ist komplizierter, da sie sich für das Conseil bewirbt, welches eine Art ethisches Gericht ist, welches entscheidet, wer im Trauerfall die Wanderung in die Vergangenheit antreten darf, um seine Liebsten noch einmal aus Entfernung sehen zu können. Gleichzeitig wird sie verstrickt in genau einen solchen Vorgang und folgenschwere Geschehnisse werden losgetreten.

Scott Alexander Howard hat hier ein wirklich spannendes Gedankenexperiment um Zeitreisen, Trauer und ethisch-moralische Entscheidungen entworfen. Durch seine Prämisse der zeitverschobenen Täler umgeht er technische Fragen zum Thema Zeitreisen komplett, wenn auch nicht die daraus entstehenden Paradoxa. Es macht Spaß diesem Gedankenexperiment zu folgen, auch wenn in der ersten Hälfte des Romans es manchmal so wirkt, als ob der Autor Vignetten mit moralischen Fragestellungen aus seinen Philosophieseminaren eingebunden hat. Das wirkt zunächst ein wenig didaktisch und könnte daher auch durchaus für den Schulunterricht genutzt werden. Trotzdem bleibt der Roman für erwachsene Leser:innen auch immer interessant und wird im Verlauf immer spannender. Zuletzt habe ich richtig mit der Protagonistin mitgefiebert und wollte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Der Autor löst ein gewisses Problem des hiesigen Zeitreisekonzeptes geschickt auf und lässt die Geschichte von Odile wunderbar offen.

Sprachlich liest sich der Roman, wenn man sich erst einmal an die mitunter wenig gängigen französischen Namen gewöhnt hat, sehr flüssig runter, ohne zu simpel geschrieben zu sein. Den Charakteren, auch neben Odile als Ich-Erzählerin, folgt man sehr gern. Howard kann die Atmosphäre dieses Tals ganz wunderbar heraufbeschwören, sodass man problemlos in die Geschichte eintauchen kann und vor dem inneren Auge einen spannenden Film sieht. Apropos Film: Das Buch soll als Miniserie verfilmt werden, was man sich bei diesem Stoff sehr gut vorstellen kann.

Insgesamt hat mich der Roman nicht nur sehr gut unterhalten sondern gleichzeitig ein interessantes, für mich ein neues Konzept für Zeitreise entworfen und Fragen zum Thema Trauerarbeit aufgeworfen. Erfrischend.

4,5/5 Sterne