Odiles Welt

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christian1977 Avatar

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Die 16-jährige Odile lebt in einem ganz besonderen Tal. Würde sie dort die Grenze nach Westen überschreiten, befände sie sich 20 Jahre in der Vergangenheit. Eine Grenzüberschreitung nach Osten katapultierte sie hingegen 20 Jahre in die Zukunft. Doch über die Grenzen und das gesamte Leben im Tal entscheidet das regierende Conseil, das eine Reise in die Vergangenheit oder in die Zukunft nur in ganz wenigen begründeten Ausnahmefällen zulässt - beispielsweise, um einen zu früh verstorbenen Menschen wenigstens noch ein einziges Mal sehen zu können. Als Odile zufällig zwei maskierte Gäste aus der Zukunft im Tal entdeckt und dahinter die Eltern ihres nahezu einzigen Freundes Edme erkennt, ringt sie mit sich. Soll sie verbotenerweise in das Geschehen eingreifen, um Edmes Tod doch noch zu verhindern? Oder konzentriert sie sich ganz auf ihre angestrebte Ausbildung im Conseil und nimmt damit den Verlust des Freundes in Kauf?

"Das andere Tal" ist der Debütroman des kanadischen Autors Scott Alexander Howard, der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Anke Caroline Burger bei Diogenes erschienen ist. Es ist ein bemerkenswert kluger Roman, dem man den philosophischen Hintergrund Howards nahezu durchgehend anmerkt, ohne dass er auch nur ansatzweise verkopft daherkommt. In den existenziellen Fragen nach Schuld und Moral in Verbindung mit einer jugendlichen Protagonistin erinnert er zeitweilig an Jostein Gaarders "Sofies Welt", über weite Strecken des ersten Teils kommt er einem hingegen wie ein sehr guter Jugendroman vor. Es ist nicht nur die für das Genre typische Begleitung einer Außenseiter-Figur, die sich mit der Zeit stark entwickelt und nach und nach Anschluss findet, sondern es sind auch die Themen wie Freundschaft, erste Liebe, Schule und Ausbildung, die daran erinnern lassen. Und auch wenn junge Leser:innen durchaus Gefallen an "Das andere Tal" finden könnten, sollten Erwachsene nicht den Fehler machen, das Buch zu unterschätzen. Denn im zweiten Teil wird die Handlung ungleich düsterer und nähert sich immer stärker einer Dystopie an.

Sprachlich ist "Das andere Tal" klar strukturiert und gönnt sich wenig Abschweifungen. Doch auch wenn der Roman extrem handlungsorientiert und souverän erzählt wird, weiß Scott Alexander Howard seine sprachlichen Fähigkeiten wohldosiert einzusetzen. Beispielsweise bei einer ungemein romantischen Nachtszene, in der der Geige spielende Edme Odile seine Kompositionen auf einer Klippe vorstellt. Oder bei einem Regenschauer, der sich kongenial mit Odiles Stimmungsbild verbindet.

Das größte Verdienst des Buches ist es aber, dass man als Leser:in im positiven Sinne dazu gezwungen wird, seine grauen Zellen anzustrengen. Das philosophische Konstrukt hinter einer offenbar unendlich wirkenden Reihe von Tälern zu verstehen - oder es zu dekonstruieren. Sich selbst zu hinterfragen, wie man sich entscheiden würde. Und wenn man zu dieser Entscheidung gekommen ist, sich wiederum zu fragen, warum man diese Entscheidung so getroffen hat. Das macht Scott Alexander Howard herausragend, indem er mit den Erwartungen der Leserschaft spielt und diese animiert.

Da ist es dann doch sehr schade, dass ausgerechnet die zentrale Idee des Buches der Hinterfragung nicht standhält. Die ernst gemeinte Begründung der für alle Beteiligten und auch für das Conseil extrem riskanten Grenzüberschreitungen bzw. Zeitreise lautet nämlich tatsächlich: "Das war schon immer so." Hier macht es sich Howard zu einfach und unterschätzt die klugen Leser:innen. Mit bösen Absichten könnte man so die eigentlich hervorragende Grundidee - und damit auch den Roman - komplett auseinandernehmen.

Da "Das andere Tal" einen ansonsten aber nahezu über die gesamte Dauer der etwas mehr als 450 Seiten komplett für sich einnimmt, bleibt dies ein mittelgroßer Wermutstropfen eines ansonsten wunderbaren Debütromans, der große Lust auf weitere Werke des Kanadiers macht.