Philosophie in Romanform

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missmarie Avatar

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"Der einzige Sinn und Zweck des Conseils ist der Schutz unseres Lebens.
Die Conseilliers sind die Bewahrer des Lebens, so wie wir es kennen.
Die Zäune hat es schon immer gegeben und das Conseil hat die Grenze immer überwacht."

Odile wohnt in einem besonderen Tal am See, das von einem Grenzzaun mit Wachposten umgeben ist. Das allein ist zwar schon etwas merkwürdig, allerdings ist noch viel außergewöhnlicher, dass sich genau das gleiche Tal auch im Weste und im Osten befindet - nicht nur architektonisch gleich, sondern auch mit den gleichen Menschen. Der einzige Unterschied: Die Menschen leben entweder 20 Jahre in der Zukunft oder in der Vergangenheit. Geht man sogar zwei Täler weiter, sind es 40 Jahre. Wie ein Geographie gewordener Zeitstrahl. Besuche zwischen den Tälern sind nicht erlaubt - den was würde passieren, wenn man die Vergangenheit verändert? Nur in Ausnahmefällen, die das Conseil genehmigt, dürfen Besucher einen Blick in Zukunft oder Vergangenheit werfen. Meist sind diese Besuche ein sicherer Anzeichen dafür, dass jemand sterben wird. Deswegen tragen die Besucher auch Masken, um nicht erkannt zu werden. Als Schülerin beobachtet Odile einen solchen Besuch und errät, wen das Schicksal treffen wird. Doch was soll sie tun? Es dem Betroffenen sagen, seinen Tod gar verhindern oder schweigen? Denn sie selbst befindet sich gerade im Auswahlverfahren für das Conseil, doch der Todgeweihte ist ein gute Freund...

In seinem Debüt gelingt es Scott Alexander Howard große philosophische Fragen geschickt in einen unterhaltsamen Roman zu verpacken. Zunächst einmal ist da das schwierige Thema der Zeitreisen und ob wir solche unternehmen sollten, nur weil das möglich ist. Wann ist die Trauer eines Menschen groß genug, um das Risiko einer Veränderung in der Zeitachse in Kauf zu nehmen? Unweigerlich stellt sich die Frage, was man selbst tun würde. Einen Antrag auf einen Besuch stellen? Und würde das den Schmerz um einen geliebten Menschen wirklich lindern oder vielleicht sogar noch verschlimmern?

Eng damit verbunden ist auch die Frage, inwiefern wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen können, wenn eine andere Version des Selbst im nächsten Dorf die Zukunft in 20 Jahren vorzeichnet. Heißt dass, dass alle Entscheidungen bereits vorgegeben sind und keine Änderungen mehr möglich sind? Egal, wie sehr wir uns anstrengen? Und ganz nebenbei: Wenn es mich in mehreren Ausführungen gibt, welches ist dann meine echte Identität?

Dem Autor gelingt es, diese Fragen in "Das andere Tal" so aufzuwerfen, dass es es keine eindeutige Antwort gibt, sicher der Leser auf ein Denkspiel einlassen kann, dessen Antworten er letztendlich selbst finden muss. Ähnlich verhält es sich auch mit den politischen System der Stadtherrschaft, das Howard schafft. Hier sind definitiv autoritäre Elemente zu erkennen: Wer versucht, über den Zaun zu flüchten, wird erschossen. Aber ist das Teil eines Willkürsystems oder "nur" die legitime Durchsetzung einer staatlichen Gewalt, die ihren Bürgern und vor allem den Gemeinwesen Schutz versprechen möchte?

Die vielen offenen Fragen und das wenig festgelegte Ende überlassen es dem Leser, was er bzw. sie aus dem Roman mitnehmen möchte. Das macht die Geschichte vielleicht nicht ganz einfach. Hinzu kommt, dass sich stellenweise recht komplizierte Zusammenhänge durch die Zeitreisen ergeben, die man erst einmal im Detail nachvollziehen zu versuchen muss. Allerdings hat es mir unheimlichen Spaß gemacht, die kleinen Hinweise und Details zu suchen und mit staunen auf diese sprachliche und inhaltliche Meisterwerk zu schauen.