Philosophisch interessantes Gedankenspiel, das sein Potential leider nicht ganz ausschöpft

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simonef Avatar

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Das Setting von "Das andere Tal" hat mich sofort neugierig gemacht. Ein Tal mit einem See und einer Stadt, eingefasst von einer Gebirgskette im Westen und einer Steppe im Osten, das sich in beiden Himmelsrichtungen wiederholt, wobei die Täler in Ostrichtung jeweils 20 Jahre versetzt in der Zukunft liegen, und in Westrichtung entsprechend jeweils 20 Jahre in der Vergangenheit. Besuche in einem Nachbartal sind nur in Trauerfall erlaubt, streng reglementiert und müssen von speziellen Gremien, den sog. Conseils, beider Täler genehmigt werden. Die Besucher dürfen sich u.a. nicht zu erkennen geben, nicht eingreifen und nur aus der Ferne beobachten.

Die Geschichte um die Ich-Erzählerin Odile Ozanne besteht aus zwei Teilen. Im ersten ist Odile 16 Jahre alt und wird zufällig Zeugin eines Besuchs aus dem Osten, in dem sie die Eltern von Edme erkennt, einem Jungen, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Aufgrund dieser Beobachtung weiß sie, dass Edme bald sterben muss. Der zweite Teil spielt 20 Jahre später. Mehr möchte ich über den Inhalt nicht verraten.

Der Schreibstil ist flüssig zu lesen, und die Geschichte hat mich von Anfang an gepackt. Allerdings habe ich mich etwas über die Figurenzeichnung gewundert. Odile erschien mir seltsam unbeteiligt und emotional kühl, fast gleichgültig. Angesichts Edmes bevorstehenden Todes und ihrer ersten Verliebtheit hätte ich erwartet, dass sie stärker mit dem Schicksal hadert, Edme beschützen möchte und innere Konflikte um ihr Vorwissen eine größere Rolle spielen. Die anderen Figuren wirkten auf mich eher eindimensional und durchschaubar, es fehlten mir Ambivalenz und persönliche Entwicklungen. Generell empfand ich die Atmosphäre als auffällig kühl und empathiearm, was für einen Roman, in dem emotionale Belastung und starke Trauer angesichts eines Schicksalsschlags mit ausschlaggebend sind für eine Besuchserlaubnis in einem anderen Tal, beinahe paradox wirkt.

In welcher Zeit die Handlung spielt, bleibt unklar. Es gibt bereits Strom und Autos, dennoch wirkt die Welt antiquiert, vieles bleibt vage. Telefone oder andere technische Errungenschaften werden nicht erwähnt, die Grenzbefestigung ist spartanisch, höhere Bildung und Universitäten scheint es nicht zu geben, wie Waren und Rohstoffe importiert werden, die im Tal nicht selbst hergestellt oder gewonnen werden, wird nicht erklärt. Die Täler scheinen sich diesbezüglich zu ähneln, technischer Fortschritt ist nicht erkennbar.

Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard bietet mit seinem Roman ein philosophisch höchst interessantes Gedankenspiel, das bemüht ist, die üblichen Widersprüche in Zeitreiseromanen zu vermeiden. Da mir als Mathematikerin Logik und Stringenz sehr wichtig sind, ist dies für mich ein großer Pluspunkt. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass Howard hier seiner Leserschaft noch deutlich mehr zutraut. So erfährt man nur oberflächlich von der Arbeit des Conseils und des Archivs, innere Strukturen bleiben unklar, und die Chance einer wirklich tiefgründigen Auseinandersetzung mit den Entscheidungskriterien für oder gegen eine Besuchspetition, der Abwägung von Nutzen und Risiken für den Einzelnen und die Gemeinschaft im Tal, die Ängste der Bevölkerung bei bevorstehenden Besuchen, bleibt ungenutzt. Auch sind die Folgen von Störungen, die durch
Besucher aus einem Nachbartal hervorgerufen werden können (absichtlich oder unabsichtlich), bei genauerem Hinsehen deutlich komplexer, als es im Buch zunächst den Anschein hat. Da ich nicht spoilern möchte, ist es schwierig zu beschreiben, worauf ich hinaus möchte. Nur so viel: Wenn ein Besuch aus dem Osten im Tal eine Störung verursacht, d.h. den Fortgang des Lebens in irgendeiner Weise beeinflusst, hat dies Auswirkungen auf die Existenz der Menschen in diesem und allen östlichen Tälern. Mit Voranschreiten der Zeit wird jedoch auch im ersten Tal westlich 20 Jahre später der Zeitpunkt erreicht, zu dem im Ausgangstal die Störung stattgefunden hat (und entsprechend 40/60/80... Jahre später in den noch weiter westlich gelegenen Tälern). Um Kontingenz zu erreichen, müsste nun ein Besuch aus dem Ausgangstal im Westtal dieselbe Störung hervorrufen. Doch was ist, wenn die damalige Störung im Ausgangstal gerade dazu führt, dass der Grund für den auslösenden Besuch nicht mehr gegeben ist, etwa weil der zugrundeliegende Trauerfall hierdurch vermieden wurde? Dass dies dem Autor natürlich bewusst ist, klingt ansatzweise an, als Odile in Teil 2 Zeugin eines Fluchtversuchs wird und Überlegungen über die Konsequenzen für sich anstellt. Leider arbeitet Howard dies nicht stärker aus. Wendet man diesen Gedanken konsequent im Nachhinein auf das Buch an, erscheint manches in einem anderen Licht.

Mich hat dieses Buch noch mehrere Tage, nachdem ich es beendet hatte, sehr beschäftigt, insbesondere hinsichtlich der komplexen Zusammenhänge, die sich erst bei gründlichem Durchdenken offenbaren. Bezüglich der Bewertung bin ich hin- und hergerissen. Einerseits haben mich die Idee des Buches und insbesondere die Handlung im zweiten Teil wirklich begeistert, dennoch bleibt das Gefühl zurück, dass hier das philosophische Potenzial des Gedankenexperiments nicht weit genug ausgeschöpft wurde.