Sollen wir die Vergangenheit ändern?

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Odile lebt in einem Tal, neben dem im Osten und Westen gleiche Täler sind, allerdings 20 Jahre zeitversetzt, eins in die Zukunft, eins in die Vergangenheit. Besuche in andere Täler sind möglich, werden aber entschieden und streng reguliert von einer alles regelnden Macht, dem Conseil.
Das Buch besteht aus zwei großen Teilen. Im ersten Teil begleiten wir die junge Odile in der Schule, beim Auswahlverfahren des Conseils und in ihrer Freizeit. Dieser Teil liest sich eher wie ein Jugendroman, wirft aber viele moralisch-philosophische Fragen auf.
Der zweite Teil spielt 20 Jahre später und ist deutlich ernster und düsterer, jegliche Leichtigkeit ist verschwunden.

Es gibt viele Bücher oder Filme mit Zeitreisen, die Idee parallel nebeneinander existierender Zeitebenen war neu für mich. Scott Alexander Howard ist promovierter Philosoph und das prägt natürlich die Fragestellungen, die er seinen Figuren und uns gibt. Als Wissenschaftler hat er sehr darauf geachtet, Zeitparadoxa möglichst zu vermeiden.

Die im Mittelpunkt stehende Odile ist ein schüchternes Mädchen, sehr intelligent, aber ständig in einer Art Außenseiterrolle. Der neue Freundeskreis und die erste Verliebtheit lassen sie etwas lockerer werden. Die Unsicherheiten, Gedanken und Gefühle der Jugendlichen sind plausibel und authentisch beschrieben, den ersten Teil des Buches kann man ohne weiteres dem Coming-of-Age Genre zuordnen.
Der Staat, in dem sie leben, ist ein totalitärer Staat, es gibt kaum Freiheiten. Odile stellt das System nicht in Frage, aber sie ist immer wieder Gewissenskonflikten ausgesetzt. Soll sie sich dem Conseil / dem Staat gegenüber loyal verhalten oder darf Persönliches Einfluss auf ihr Verhalten und Entscheidungen haben?
Im zweiten Teil, in dem sie erwachsen ist, ist sie ein ziemlich einsamer Mensch und auch relativ emotionslos. Das prägt den Erzählton und auch die vermittelte Grundstimmung.

Es ist ein interessantes Gedankenexperiment, das naturgemäß zu eigenen Überlegungen führt. Würde ich einen Besuch machen wollen und wo - in der Vergangenheit oder in der Zukunft? Was macht es mit meinem Leben, wenn ich sehen kann, wie die Situation in 20 Jahren sein wird? Wie würde ich die Regeln für Reisen in die Vergangenheit oder Zukunft festlegen?

Scott Alexander Howard sagt im angehängten Interview, das Buch sei eine Meditation über die Vergangenheit und ihre Präsenz. Das ist es auf jeden Fall, doch es beschäftigt sich auch mit der Zukunft und ethischen Entscheidungen.

=> Ein nüchtern geschriebenes Gedankenexperiment zu Zeitreisen, eingebettet in eine fesselnde Geschichte über ethische Entscheidungen.