Wissen um das eigene Schicksal

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dimity74 Avatar

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Das Tal, in dem die junge Odile lebt ist etwas ganz besonderes. Je nachdem in welche Richtung man sich bewegt trifft man auf das selbe Tal, die selben Menschen, allerdings immer jeweils 20 Jahre in der Zukunft, oder der Vergangenheit. Der Kontakt zwischen diesen verschiedenen Welten ist streng reglementiert, nur in wenigen Ausnahmefällen ist ein Besuch gestattet. Als Odile Besucher aus der Zukunft entdeckt ist ihr klar, dass einem ihrer Freunde etwas zustoßen wird, die Eltern von Edme sind gekommen, um ihren Sohn, kurz vor dessen Tod, noch einmal zu sehen.

Als ich den Klappentext zum Buch gelesen habe, war ich sofort von der Thematik fasziniert. Dieses Gedankenspiel zum Thema zeitversetzter Existenz, vor allem der Kenntnis darüber und natürlich der Möglichkeit eines Eingreifens bietet unglaubliche Möglichkeiten für eine Geschichte. Der Autor erzählt seine Version anhand der jungen Odile und ihrer Freunde, die kurz vor dem Schulabschluss und den damit verbundenen Veränderungen stehen. Die Figuren durchleben im ersten Teil des Buches eine Art Coming of Age Geschichte, erste Liebe, Selbstfindung, die Lösung vom Elternhaus. Nur ganz am Rand werden hier die besonderen äußeren Umstände deutlich, zum Einen natürlich durch Odiles Beobachtungen und zum Anderen durch ihre Anwärterschaft auf einen Ausbildungsplatz beim Conseil, der Institution, die über die Anträge zu möglichen Besuchen zu entscheiden hat. Im zweiten Teil sind die Auswirkungen der besonderen Lebensumstände schon wesentlich deutlicher zu spüren. Odile ist mitlerweile erwachsen und ihr Leben wurde durch die Ereignisse in ihrer Jugend entscheidend beeinflusst.

Hier im zweiten Teil stellt sich nun auch immer stärker die Frage, wie anders das Leben Aller verlaufen wäre, hätte Odile damals nicht über ihre Beobachtung geschwiegen. Hätte sie mit einer Bemerkung, einer kleinen Andeutung, den Verlauf der Ereignisse verändern, den Tod ihres Freundes verhindern können? Zuerst nur ein hypothetisches Gedankenspiel an einsamen Abenden, aber als sich dieser Gedanke erst einmal festgesetzt hat, nimmt er immer mehr Raum ein und diesen Raum nimmt er nicht nur in Odiles Gedanken ein, sondern auch im Kopf des Lesers. Genau wie Hauptfigur Odile ist man ständig dabei über die Möglichkeiten zu philosophieren, über das "was wäre wenn" und natürlich über die Konsequenzen. Was, wenn ich zum Beispiel in der Vergangenheit unbeabsichtigt das Treffen meiner Eltern verhindere, oder jemanden töte, der erst viele Jahre später ein schlimmes Verbrechen begeht? Welche Konsequenzen hat das für mich und all die Personen, die von diesen Veränderungen direkt, oder indirekt betroffen sind? Ein Gedankenspiel, bei dem einem schnell der Kopf raucht und das Spannungsgrundlage für derartige Geschichten bietet.

Natürlich ist das Szenarieo nicht ganz neu, schon in H.G.Wells "Die Zeitmaschine" wird der Leser mit dem sogenannten Zeitreiseparadox konfrontiert, das sich in ähnlicher Form hier im Buch wiederfindet. Auch andere Parallelen kommen dem Leser in den Sinn. Die fast etwas totalitäre Welt im Tal weckten in mir Assoziationen zu Büchern wie "Der Report der Magd", oder auch in einigen Aspekten zu "1984", die engen Strukturen zur Berufsfindung der Jugendlichen erinnern etwas an "Die Bestimmung" und als Kind der DDR muss ich bei der Arbeitsweise des Conseils und den Zuständen an der Grenze zwischen den einzelnen Tälern natürlich direkt an die Methoden der Staatssicherheit denken. Möglich, das andere Leser hier ganz andere Interpretationen vornehmen.

Der Roman erzählt seine Geschichte sehr unaufgeregt, manchmal fast langatmig, aber ohne dabei etwas von seiner Dramatik und seiner Eindringlichkeit zu verlieren. Die Spannung entsteht nicht so sehr durch das Offensichtliche, sondern eher durch das, was man zwischen den Zeilen liest, durch das, was sich beim Lesen und lange danach noch im Kopf des Lesers abspielt. Dieses Buch ist eines das nachhallt, das im Leser arbeitet, über das man nachdenkt, von dem man träumt, dessen Gedankenspiel man immer weiter fortführt, das einen packt und nicht mehr loslässt. Warum ich trotzdem nur 4 Sterne vergebe? Schwierig zu beantworten, aber durch dieses ständige Nachgrübeln über die Geschichte, sind mir einige lose Enden aufgefallen, Punkte, die der Autor, in meinen Augen, nicht konsequent zu Ende gedacht hat, kleine Sandkörnchen im gut geölten Getriebe dieser fiktiven Welt, die einen leichten, kaum hörbaren Misston verursachen. Nicht wirklich greifbar, aber eben vorhanden.