Der Dabeiseiende zwischen innerer Freiheit und Gefangenschaft

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20something. Avatar

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In dem im Herbst 2021 neu im Buchhandel erschienenen Roman „Das Archiv der Gefühle“ des vielgefeierten, mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Schweizer Autoren Peter Stamm bekommen Lesende die Möglichkeit, den Protagonisten beim, um den Philosophen Isaiah Berlin zu zitieren, „Rückzug in die innere Zitadelle“ und dem peu à peu geschehenden Ausbrechen aus den selbst geschaffenen Mauern zu begleiten.

Der namenlose Protagonist ist ein Schweizer Archivar bzw. Dokumentarist um die 50, der seine langjährige Anstellung, aber keineswegs seinen Job verloren hat – nachdem ihm gekündigt wurde führt er das ehemals auf seiner Arbeit angesiedelte Archiv im Keller seines eigenen Hauses weiter und widmet diesem den Großteil seines Tages. Das Gros seiner Gedanken ist dabei stets auf Franziska gerichtet: Die beiden verband seit Kindesbeinen an eine enge Freundschaft, mehr noch, der Protagonist gestand ihr in Jugendtagen seine auch heute noch bestehende Liebe, die sie allerdings nicht erwiderte. Seit gut 30 Jahren stehen die beiden nicht mehr in realem Kontakt zueinander, doch er konstruiert in seiner gedanklichen Parallelwelt ein gemeinsames Leben mit ihr, sodass sie in all seinen Lebenssituationen zugegen ist; die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischen.

In „Das Archiv der Gefühle“ scheint das Archiv für die individuelle Konstruktion des eigenen Lebens und den Umgang damit zu stehen: Was wird wie kategorisiert, was als relevant oder irrelevant angesehen, was nehmen wir darin auf? Ohne diese Fragen direkt wortwörtlich anzusprechen handelt Stamm in seinem jüngsten Roman gewichtige Fragen des menschlichen Seins ab, so etwa die Frage nach Freiheit – ist der Protagonist gerade dadurch frei, dass er seine Realität „frei“ nach seinem Gusto gedanklich konstruiert und in seiner Fantasie gemäß seiner Wunschvorstellungen lebt? Oder ist er erst recht ein Gefangener seiner selbst dadurch dass er überhaupt die Freiheit hat, in seinem erdachten Phantasma zu leben? Ähnliches bezogen auf das Archiv – einerseits gewinnt der Protagonist durch die umfängliche Ordnung, Strukturierung und Kategorisierung Sicherheit, andererseits fühlt er sich davon gefesselt.

Durch seine jahrzehntelange Arbeit am Archiv ist er stets damit beschäftigt, die Welt, ihre Zusammenhänge und die sich darin befindenden Personen zu dokumentieren, einzuordnen und zu strukturieren, lebt dabei jedoch scheinbar am Fluss des eigenen Lebens vorbei. So bezeichnet er sich selbst in Anlehnung an einen Bibelvers aus Mose als den immer nur „Dabeiseienden“, der dadurch nicht der aktiv Schaffende seines eigenen Lebens ist. Doch dies beginnt sich irgendwann zu wandeln.

Der Schreibstil ist einerseits kurz und knackig, dabei andererseits „trotzdem“ rhetorisch gewandt und bringt wunderbare Wortkombinationen hervor, die ich drei Mal hintereinander lese, weil sie mir so gut gefallen.
Eine klare Lektüreempfehlung!