Ein wunderbares Buch!
Ich muss ja zugeben: Ich bin schon seit vielen Jahren ein Fan der Bücher von Peter Stamm - wunderbare Sprache, Hintersinn, Sätze, die es auf den Punkt bringen, Nachvollziehbarkeit der Handlung und Geschichten, die nicht erst 800 Seiten zu ihrer wahren Entfaltung benötigen. Und auch mit seinm neuen Roman "Das Archiv der Gefühle" hat er mich nicht enttäuscht. Das Buch ist nicht in Kapiteln sondern lediglich ganz schlicht in Abschnitte unterteilt. So hat es mit seinen knapp 190 Seiten fast schon einen 'Novellen-Charakter' - und ist gleichwohl ein regelrechter Entwicklungsroman. Der Ich-Erzähler, als Archivar einer Zeitung frisch gekündigt und nicht unbedingt ein Menschenfreund, lebt zurückgezogen und übernimmt das kompeltte Archiv der Zeitung in seinen eigenen Keller. Im Leben des (namenlos bleibenden) Ich-Erzählers hat alles seine Ordnung und seinen Platz. Der Ich-Erzähler resümiert sein Leben, seine erste Begegnung mit Franziska, den ersten Kuss und die ausbleibende Liebesbeziehung mit ihr; die Liebe zu ihr wird ihn bis in die erzählte Gegenwart hinein begleiten doch zweifelt er am Ende: "... hatte ich den Alltag mit Franziska teilen wollen, oder brauchte ich sie nicht vielmehr als das, was sie mir ein Leben lang gewesen war, eine unerreichbare Liebe, eine Sehnsucht. Sie hatte mich zugleich glücklich und unglücklich gemacht in ihrer Abwesenheit. Wäre ich glücklicher gewesen mit ihr zusammen? Wovon hätte ich dann geträumt?" Die beiden Lebenswege entwickeln sich auseinander. Der Ich-Erzähler studiert nach der Schule, wird Archivar, hat Beziehungen; Franziska macht unter dem Namen 'Fabienne' Karriere als Sängerin. Er verfolgt ihren Lebensweg und legt im Archiv eine Akte zu ihrem Namen an. Mit der Kündigung seines Jobs beginnt er sein Leben zu bilanzieren, versucht Ordnung hineinzubringen, stellt aber fast schon depressiv gestimmt fest, dass alles nur eine Abfolge von Ereignissen war- ohne Zusammenhang und ohne einen roten Faden. Die 'Archivierung' seines Lebens will nicht so recht gelingen. Und je mehr er sich zurückzieht, seinen Erinnerungen ausgesetzt, je mehr er den Menschen aus dem Weg geht, desto mehr denkt er an Franziska und fantasiert sie in sein Leben hinein. Der Versuch, die Gefühle zu archivieren scheitert. Über seinen Kontakt zur Zeitung kommt er an Franziskas Mailadresse - und sein Leben kommt in Bewegung; aber bis zur Wiederbegegnung nach vielen Jahren wird es noch etwas dauern; aber eins sei verrraten - er entsorgt das Archiv! Die Entwicklung, die der Protagonist durchläuft reicht von ""Ich bin immer nur der Dabeiseiende gewesen. Ich bin, der ich bin. Eine Leerstelle." hin zu "Jetzt gibt es nur noch meine Geschichte, die Akte, die mein Leben ist und die mir plötzlich viel größer, viel wichtiger erscheint, wo alle anderen verschwunden sind. ... Es könnten die ersten Tage meines Lebens sein. Das Archiv ist weg, das Haus geputzt und aufgeräumt,... etwas Altes könnte abgeschlossen werden, etwas Neues beginnen." Unbedingte Leseempfehlung fürs nächste Wochenende! Wunderbar!