Imagination oder Realität?

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jana_f.s. Avatar

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Nachdem ich auf Empfehlung einer Freundin hin schon länger Peter Stamms 2018 publizierten Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ lesen wollte, es aber bis dato nicht geschafft habe, ist der 2021 neu erschienene Roman „Das Archiv der Gefühle“ nun das erste Stamm’sche Werk, welches ich mich zu Gemüte führe. Auch wenn ich das Cover wenig aussagekräftig bzw. als wenig zum Inhalte passend finde, haben mich Gestaltung und Leseprobe des Buches direkt angesprochen.

Auf knapp unter 200 Seiten begleiten wir einen namenlosen, in der Schweiz lebenden Archivar in der Mitte seiner Fünfziger auf seinen gedanklichen Wegen durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Maßgeblichen Raum in diesen Gedanken nimmt dabei Franziska ein – sie ist in etwa vom gleichen Alter wie der Protagonist und Schlagersängerin, ihr Künstlerinnenname lautet Fabienne. Der Protagonist und sie kennen sich bereits seit Schulzeiten und waren damals sehr gut befreundet, er in sie verliebt und gestand ihr seine Liebe, die sie jedoch nicht zu erwidern schien. Doch seit knapp drei Jahrzehnten haben die beiden keinen Kontakt mehr zueinander. Aus Selbstschutz und um die stetigen Unwägbarkeiten des Lebens weitestgehend von sich fernzuhalten lebt der Protagonist ein abgekapseltes Leben und ist relativ allein, jedoch nicht einsam: Er lebt in einer gedanklichen Spähre aus Erinnerungen und Fiktion, einer Fantasie- oder Parallelwelt, in der Franziska stets zugegen ist und als Dialogpartnerin und Projektionsfläche für seine Gedanken und Gefühle fungiert.

Stamm gelingt es dabei, sprachlich und erzählerisch die Stränge der Fiktion und die der Realität so eng zu verweben, dass oft nicht klar ist, ob der Protagonist retrospektiv über Erfahrenes berichtet oder imaginiert. Diese Verwobenheit der Form spiegelt ganz wunderbar den Kern des Protagonisten wieder: „Meine unglückliche Liebe, meine Träume, meine Phantasien konnte mir niemand nehmen, nicht einmal sie.“ Im Fortgang der Geschichte jedoch ändert sich einiges im Leben des Archivars und so auch in seinem Bewusstsein. Er konstatiert: „Meine Phantasie hat mir alles gegeben, was ich mir wünschen konnte. Die Realität vermochte nie mitzuhalten. […] Es gab immer Momente der Klarheit […] in denen ich ahnte, dass die Realität viel mehr sein könnte, viel reicher und intensiver als jede Vorstellung es war.“

Ein spannender Roman, in dem wir die Reise eines Menschen zu sich selbst und gleichsam aus den eigenen Mauern heraus begleiten dürfen. Klare Lektüreempfehlung!