Leiser Roman über ein versäumtes Leben und den zaghaften Versuch eines Neuanfangs

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bea20 Avatar

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Wie immer ist Peter Stamm ein sehr lesenswertes, leises und fein erzähltes Buch gelungen. Buchcover und Titel sind stimmig und klug gewählt. Der namenlose Protagonist, ein etwas verschrobener Mittfünfziger, führt ein zurückgezogenes, einsames Leben allein im Haus seiner verstorbenen Mutter, nachdem er seine Stelle als Archivar eines Pressehauses verloren hat. Er lebt in seiner eigenen Welt, mit Träumen und Phantasien und Erinnerungen an die unerfüllte Liebe zu seiner Jugendliebe Franziska.
Als ihm gekündigt wird, sucht er sich keine neue Arbeitsstelle, sondern lässt das in seinem Beruf nicht mehr zeitgemäße Papierarchiv mitsamt des Regalsystems im Keller seines Hauses installieren und beschäftigt sich fortan akribisch mit der privaten Weiterführung seiner Archivierungsarbeit. In dieser Beschäftigung geht er auf; das Ordnen und Beschriften von Dingen, seine Routinen und Regeln geben ihm Sicherheit und schützen ihn vor Veränderung.

„Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgelegten Platz und kann mit etwas Übung jederzeit schnell gefunden werden. Das ist der wahre Zweck des Archivs. Da zu sein und Ordnung zu schaffen“ (Seite 15).

Seinen eigenen Gefühlen hat er nie vertraut und nie den Mut gehabt, seine Gefühlswelt zu offenbaren und sich somit verletzlich zu zeigen. Erst als seine große Liebe Franziska, die als Sängerin unter dem Namen Fabienne Karriere gemacht hat, wieder real in sein Leben tritt, beginnt er, sein Einsiedlerleben zu hinterfragen. Er stellt fest, immer nur der Dabeiseiende gewesen zu sein, sich nie auf das Leben eingelassen zu haben und ahnt nun, dass die Realität außerhalb seiner Phantasiewelt viel reicher und intensiver sein könnte. Mit der Auflösung seines Archivs und der Entsorgung der Papierberge im Container stellt sich eine Mischung aus Trauer und Leichtigkeit ein, die ihn zugleich schmerzt und zum Neuanfang befreit. Nachdem er endlich mutig erste Schritte aus seinem Schneckenhaus wagt und sich die tiefe Verbundenheit mit Franziska wieder einstellt, keimen Vorfreude auf das unbekannte neue Leben und Zuversicht auf. All das ist so feinfühlig und leise beschrieben, dass die Lektüre eine wahre Freude war. Unbedingte Leseempfehlung!