Monolog eines Archivars

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schneeglöckchen_gk Avatar

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Der neue Roman von Peter Stamm handelt von einem alleinlebenden Mann im mittleren Alter, der zwischen seinem Alltag im Jetzt seine Vergangenheit entrollt. Die Retrospektiven auf seine Kindheit, die Schulzeit, das Studium mit Auslandsaufenthalt in Paris, seinen beruflichen Werdegang – all das ist dabei immer verknüpft mit der Freundschaft zu Franziska. Die Figur der Franziska, deren Künstlername Fabienne nur selten Verwendung findet, ist dabei zunächst lediglich als Erinnerung und als lebendig wirkende Einbildung präsent. Wer wissen möchte, ob sie tatsächlich auch noch persönlich in Erscheinung tritt, dem empfehle ich die Lektüre dieses dünnen Bändchens – es endet mit einem gelungenen Schlusssatz.

Der Titel des Buches passt wunderbar zur Geschichte, denn der Ich-Erzähler agiert als Archivar der eigenen Gefühle, beschreibt meist Ereignisse und Gemütszustände aus der Vergangenheit, mischt diese aber gleichzeitig auch mit aktivem Erleben und Erzählungen aus dem Moment heraus. Zu Beginn wirkte dies auf mich wie ein ständiges Dümpeln zwischen Erinnerung, Jetzt und Einbildung. Allerdings lernt man nach einer Weile relativ gut zu unterscheiden, was was ist - auch wenn der Autor einen nie völlig sicher sein lässt. Die Beschreibung der Lebenssituation des Protagonisten ist sehr genau. Oftmals schwankte ich zwischen dem Gefühl, dass er sich alles schönredet, tatsächlich so zufrieden damit ist, wie er vorgibt, oder vielleicht einfach verbittert.
Dieses ambivalente Verhältnis zum Ich-Erzähler zog sich für mich durch die ganze Geschichte. Einerseits kommt man ihm, dadurch dass er seine Gefühle darlegt und teilweise auch selbstkritisch reflektiert, sehr nahe und man gibt sich der Illusion hin, ihn zu verstehen. Trotzdem gelingt zu keinem Zeitpunkt ein endgültiges, allumfassendes Verstehen des Protagonisten und die Frage, was das für ein Mensch ist, hallt auch nach Ende der Lektüre weiter nach. Ist für mich bis zum Schluss unklar geblieben, was letztlich den Anstoß zum Sinneswandel gegeben hat, so war es doch spannend zu verfolgen, wie im Verlauf der Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen eine Veränderung im Ich-Erzähler stattfindet und er sich vom Verwalter/Dokumentarist immer mehr hin zu einem aktiven Gestalter seiner eigenen Geschichte entwickelt. Damit ist nicht zu viel verraten, denn es gilt für die zukünftigen Leser*innen selbst zu entdecken auf welche Bereiche sich dieser Wandel auswirkt.

Die Geschichte ist als ein einziger durchgängiger Monolog verfasst, es gibt keine Kapitel oder eine anderweitige Strukturierung. Auch typografisch gibt es keine Varianz, direkte Rede ist nicht gekennzeichnet und der komplette Text in einer einzigen Schriftart gehalten. Dadurch ging es teilweise gemächlich voran, nicht leicht wie bei einer lockeren Erzählung, sondern eher mühsam wie durch ein Archiv.
Ich habe, angesteckt von der ruhigen Art des Ich-Erzählers, relativ langsam und in kleinen Etappen gelesen, wodurch ausreichend Raum für die zahlreichen gewichtigen Sätze blieb. Nach dem ersten Drittel wurde der Text für mich flüssiger zu lesen, ich weiß nicht, ob dieser Umstand am beschriebenen Lebensabschnitt oder an einer Gewöhnung an den Erzählstil lag. Im letzten Viertel hat die Geschichte dann nochmal an Fahrt aufgenommen, was beim Lesen zu beschwingter Stimmung gegen Ende geführt hat und in dem, wie oben bereits erwähnt, tollen Schlusssatz kulminierte.
Das Cover dieser Ausgabe hätte mich in der Buchhandlung sicher nicht angesprochen, die etwas sonderbaren Farben und das Motiv einer Frauenfigur sagen außerdem wenig über den Inhalt aus.

Als Fazit zu diesem Roman habe ich mir den Spruch „Jeder lebt in seiner eigenen Welt“ notiert. Die Welt des Protagonisten in Peter Stamms neuem Buch zu entdecken, lohnt sich allenfalls. Auch wenn das Archiv der Gefühle als durchgängiger Monolog ohne Strukturelemente daherkommt, macht Stamms gewohnt harmonisches Sprachgefühl und die feine Sezierung der lebenslangen Liebschaft das Büchlein zu einer empfehlenswerten Lektüre.