Verloren im eigenen Archiv

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Die ersten Seiten von „Das Archiv der Gefühle“ schaffen es noch, ziehen mich in einen typischen Peter-Stamm-Lesefluss hinein: Wir blicken mit lakonisch-kühler Distanz in das Innenleben eines Ich-Erzählers, der sich von anderen Menschen und von den Anforderungen der alltäglichen Schnelllebigkeit unterscheidet. Als stiller Beobachter lebt er in einer selbstgewählten Einsamkeitsblase und versucht, sich die dauernd verändernde und für ihn unberechenbare Welt über ein Sammeln und Ordnen verstehbar zu machen.

Wird dieser Ich-Erzähler sein Archiv erinnerter Vergangenheit, sein Alleinsein durchbrechen, sich doch in die Winterkälte der Welt hinauswagen?

Leider nicht wirklich. Der Roman stagniert im Innenleben seines namenlosen Protagonisten, verrennt sich in dessen unübersichtlichen Befindlichkeits-Mikrokosmos. Schatten von Erinnerungen, von nicht oder falsch gelebten Lebensmomenten, von gescheiterten Beziehungen huschen durch seinen Kopf. Warum ist das, was ihm hätte Halt geben können, die fragile, aber eindeutige Liebe zu seiner Jugendfreundin Franziska nie erfüllt worden? Der über Fünfzigjährige hält an ‚seiner‘ Franziska fest, die als imaginäre Gesprächspartnerin in seinem Kopf existiert, statt die Franziska, die durchaus real erreichbar wäre, endlich aufzusuchen.

„Vielleicht hatte ich Angst davor gehabt, Franziska, wieder zu verlieren, wenn ich sie einmal gewonnen hätte. Meine unglückliche Liebe, meine Träume, meine Phantasien konnte mir niemand nehmen, nicht einmal sie.“

Ich mag die Texte, insbesondere die Kurzgeschichten Peter Stamms sehr. Der Schweizer Autor beschreibt seine Figuren als Zögernde, als Gescheiterte und Außenstehende, gekonnt verlangsamt er in Momentaufnahmen die Rasanz unserer Gegenwart, seziert zwischenmenschliche Beziehungen und verweigert seinen Figuren ein Zueinanderfinden.

Schade, in seinem neuen Roman übertreibt der Autor dieses Erzählprinzip: Wie belebend wäre für diesen Text ein kräftiger, mitreißender Strom von spürbaren Veränderungen gewesen. Mir mangelt es hier an wandelbaren Figuren und einem Erzähltempo, das irgendwann die unglückliche Ereignislosigkeit hätte durchbrechen können.