Aus dem Armenviertel in die glanzvolle Welt der Reichen und Schönen

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marionhh Avatar

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Die junge Sarah Rosewell wächst im Armenviertel von Soho auf. Wie ihre Mutter und ihre Schwestern arbeitet sie als Näherin. Die ganze Familie leidet unter dem spielsüchtigen, trinkenden und gewalttätigen Vater, und es gibt keine Aussicht auf Besserung. Doch als Sarah auf die reiche und schöne Lady Sudbury trifft, wendet sich das Blatt: Die Lady wird zu Sarahs Gönnerin und Mentorin, sie nimmt sie bei sich auf, verhilft ihr zu einer Stellung und zu Bildung und führt sie in die besseren Kreise der Gesellschaft ein. Sarah findet im Auktionshaus Varnham’s ihren Beruf und ihre Berufung und bringt es – auch aufgrund des Ausbruchs des 1. Weltkrieges - bis zur Expertin für Kunst und Schmuck. Doch auch sie ist trotz ihres Ehrgeizes und ihrer Klugheit nicht gegen Fehler und vor allem nicht gegen die Liebe gefeit….

Bildhafter, versierter und spannender Roman um Sarah Rosewell und der erste Band der Auktionshaus-Saga Anfang der 1900er-Jahre. Der Autorin ist eine super sympathische Heldin gelungen, mit der man von der ersten Zeile an mit lebt und die unser Herz gewinnt. Dabei bleibt sie immer menschlich, macht Fehler, ist mal himmelhochjauchzend und manchmal voller Verzweiflung, aber gerade das macht sie unglaublich authentisch. Obwohl eindeutig ein Kind ihrer Zeit, wächst sie doch in eine Phase des Umbruchs hinein, der erste Weltkrieg bringt bei allem Schrecken gerade für Frauen große Chancen, in Berufen Fuß zu fassen, die ihnen sonst verschlossen gewesen wären. Großartig dargestellt fand ich die Umstände, in denen besonders die sozial schwachen Schichten leben, die Diskrepanz zwischen den Gesellschaftsschichten, zwischen arm und reich, aber auch die Tatsache, dass auch bei den Aristokraten nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Autorin versteht es meisterhaft, sich in ihre Figuren hinzuversetzen, in ihre Ängste und Träume und ihren Standesdünkel und macht dadurch die Motive sicht- und nachvollziehbar. Außerdem beweist sie großes Wissen um die Arbeitsweise in einem Auktionshaus und gibt interessante Einblicke in eine Welt, die dem Laien doch eher geheimnisvoll erscheint und verschlossen bleibt. Sie lässt uns hinter die Kulissen schauen und offenbart sowohl in der Welt der Reichen und Schönen als auch in der Welt der Auktionshäuser intime Kenntnisse der Verhältnisse.

Der Fokus der Geschichte liegt klar auf der Figur der Sarah, aus ihrer Perspektive wird ausschließlich erzählt, ihre Persönlichkeit ist am detailliertesten herausgearbeitet. In drei Teilen mit darin eingebetteten einzelnen Kapiteln beginnt die Erzählung ab Sarahs 18. Lebensjahr im Jahr 1910 und wird chronologisch bis ins Jahr 1919 fortgeführt. Dabei springt die Autorin ein paar Mal mehrere Jahre voraus, was mich mitunter zunächst etwas verwirrt hat. Zum Glück geben die Jahreszahlen Klarheit und die Geschichte umreißt zumindest die Ereignisse der fehlenden Zeitspanne. Sarah selbst macht eine immense Entwicklung durch. Zunächst einmal erweist sie sich als sehr mutig, ihr vertrautes Umfeld, sei es noch so elend, zu verlassen und sich in eine für sie ungewisse Zukunft zu begeben. Im Haus der Lady Sudbury muss sie sich ebenso behaupten wie später als Frau in einem Männerberuf und als alleinstehende junge Frau in der Gesellschaft. Dabei – und das fand ich einen weiteren interessanten Aspekt – vergisst sie nie ihre Herkunft und wird auch oft genug im Zusammenhang mit ihrer Familie oder ihrem Jugendfreund Charlie mit ihr konfrontiert. Mit wachsender Erfahrung wird sie nicht nur selbstbewusster, sondern auch härter, sie muss nicht Everybody´s Darling sein und geht für die Erfüllung ihrer Träume sprichwörtlich über Leichen. Da wunderte es mich phasenweise, wie naiv sie in manchen Dingen ist (was glaubt sie denn, was Charlie von ihr will?) und manche Entscheidungen waren bei allem Wohlwollen nicht nachvollziehbar. Als kleinen Kritikpunkt will ich noch anmerken, dass ich mir zu manchen Themen ein paar Sätze mehr gewünscht hätte, viele Dinge und Ereignisse werden doch recht oberflächlich angerissen, zum Beispiel der Einfluss der Suffragetten, der Antisemitismus, die Frauenfeindlichkeit, der Zerfall der Gesellschaft, die Ächtung einer alleinstehenden Frau, die ihren Ruf zu wahren hat und die Verzweiflung, die manche Situationen in Sarah auslösen. In vielem hat sie sehr viel Glück und einiges ist dann doch ein bisschen weichgespült. Auch wünschte ich mir eine bessere Ausarbeitung einiger Nebenfiguren, so war ich ein schwerer Fan von Charlie, der für mich ein zwar zwiespältiger, aber gerade deshalb ein sehr interessanter Charakter war und dem ich viel näherkam als dem Fotografen und Aristokraten Philip Maynard. Diese zwei Gegenspieler um Sarahs Gunst hätten durchaus mehr Raum einnehmen können, aber das birgt dann auch noch genug Stoff für den Folgeband.

Fazit: Alles in allem ein sehr gelungener Mix aus Frauen- und Liebesgeschichte, sehr gut in einem historischen Kontext eingebettet und mit fundiertem Wissen und in großartiger, bildhafter Sprache erzählt. Dass die Autorin schreiben kann, hat sie als Constanze Wilken hinlänglich bewiesen, und auch hier offenbart ihr Können und ihre Liebe zu ihren Figuren. Man ist sofort in der Geschichte drin und fiebert mit Protagonistin Sarah mit. Das offene Ende und die überraschende Entscheidung birgt genug Potential für den Folgeband, der dann nächstes Jahr im Februar erscheinen soll.