Zwei Wege trennten sich im fahlen Wald

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buecherfan.wit Avatar

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Obwohl der amerikanische Autor John Hart in Deutschland noch relativ unbekannt ist, hat er sich mit nur drei mit den renommiertesten Krimipreisen belohnten Thrillern an die Spitze geschrieben. Ich habe vor kurzem den hervorragenden Roman “Das letzte Kind” gelesen und bin sehr gespannt auf sein neuestes Werk.

Die Leseprobe besteht aus einem kurzen Prolog und den ersten drei Kapiteln. Im kursiv gesetzten Prolog flieht ein verletzter Junge in einer eisigen Nacht vor seinen Verfolgern. Eine Messerklinge ist an seinen Fingern festgefroren. Der Hinweis auf alte Frostnarben deutet an, dass der circa 30jährige Michael aus den folgenden Kapiteln dieser Junge war.

Michael ist seit sieben Monaten mit einer Frau namens Carmen Elena del Portal zusammen, die ein Kind von ihm erwartet. Weil er sie liebt, will er nicht länger Auftragskiller eines Mafiaclans sein. Der “Alte”, der ihn vor siebzehn Jahren gerettet hat und der ihn liebt wie einen Sohn, sogar mehr als seinen Sohn Stevan, hat ihn eine Woche zuvor frei gegeben für ein neues Leben. Aber der alte Mann liegt im Sterben, und nach seinem Tod werden die anderen Michael jagen. Eine Mafiafamilie verlässt man nicht lebend, Verräter werden getötet. Michael hat seiner Freundin eine Menge Lügen erzählt, zum Beispiel, dass er ein armer Studienabbrecher ist, und auch sie hat Geheimnisse vor ihm, erzählt nichts von ihrer Familie und ihrer Vergangenheit. Michael will den Alten ein letztes Mal besuchen vor seinem Ableben weil er der einzige Mensch ist, den er jemals geliebt hat. Weil er ihn liebt, erfüllt er dem Sterbenden den letzten Wunsch und erlöst ihn von seinen Qualen, obwohl beide das Risiko kennen. Stevan und die anderen werden ihn jagen. Der Alte weiß, dass Michael Stevan töten wird und hat es bereits akzeptiert, als er ihn frei gab.

Wie zuletzt schon Josh Bazell in seinem außergewöhnlichen Thriller “Schneller als der Tod” macht John Hart einen sympathischen Auftragsmörder zu seinem Protagonisten. Dies gelingt ihm, ohne dass er Michaels Killerqualitäten herunterspielt. Das Gegenteil ist der Fall. Michael ist ein sehr effizienter Mörder, ein Chirurg, kein Schlachter. Er wird so sehr gefürchtet, dass er manchmal nicht einmal mehr töten muss. Aber Michael ist keine eindimensionale. seelenlose Killermaschine, sondern ein komplexer runder Charakter. Er ist zu tiefen Gefühlen fähig - für Elena und für seinen Ziehvater-, und er ist absolut loyal.

Michael hat sich die Botschaft des berühmten Gedichts “The Road Not Taken” von Robert Frost zu eigen gemacht, das der Autor zitiert und auf das er im Zusammenhang mit Michael mehrmals anspielt. Dabei geht es um folgendes: Wir gelangen im Leben an eine Weggabelung, vor uns ein Weg, den die meisten nehmen und ein zweiter wenig begangener. Wir müssen uns entscheiden und können nie mehr an die Weggabelung zurückkehren, um alles noch einmal ganz anders zu machen. Handlungen haben Konsequenzen, Entscheidungen ihren Preis. Michael weiß das, und er lebt danach.

Mir gefällt die Leseprobe außerordentlich gut, vor allem, weil Hart die Ausgangssituation von “Das letzte Kind” weiterentwickelt. Wieder stellt er einen Jungen mit furchtbaren Kindheitserlebnissen in den Mittelpunkt eines Romans, aber dieses Mal endet die Geschichte nicht, wenn der Junge 13 Jahre alt ist, sondern Hart fragt sich, was aus einem solchen Menschen werden könnte - genau wie Josh Bazell. Noch gibt es viele Geheimnisse um die Geschehnisse in Michaels und Elenas Vergangenheit und das Schicksal von Michaels jüngerem Bruder, aber ich erwarte auf jeden Fall einen Thriller mit literarischen Qualitäten, der mich fesselt und berührt.